Die Peripherie der Stadt ist ein Ort ständiger Veränderung. Neues entsteht, alte Strukturen müssen weichen. Darin manifestiert sich der aktuelle Status einer sich stets wandelnden Gesellschaft, wie der Stadtforscher Boris Sieverts schreibt. Letztlich ist der Stadtrand aber auch die Gegend, in der der Wahlberliner Paul Scraton hofft, der selbst gewählten Heimat näher zu kommen und die Stadt besser zu verstehen. Logisch, denn nirgends gehts realer zu als fernab vom hippen Zentrum.
180 Kilometer wanderte Scraton für sein kürzlich erschienenes Buch Am Rand um ganz Berlin entlang der Berliner Stadtgrenze. Ausgehend von der Greenwichpromenade in Tegel umrundet der Autor zwischen Anfang Januar bis Ende März die Stadt in zehn Spaziergängen. Scraton zeichnet ein Bild von Berlin, dem angenehm zu folgen ist, schon allein, weil es endlich einmal nicht um den viel beschworenen Kreativstandort geht. „Die Außenbezirke sind ein Ort, an den man aus der Stadt fliehen kann, ohne die Stadtgrenzen zu verlassen“, schreibt er. Im Laufe seiner Wanderungen wird ihm aber auch sehr wohl bewusst, dass die Peripherie für nicht wenige Menschen steter Lebensmittelpunkt ist. Hier wird gelebt, geliebt, gestorben.
Neben den Routenbeschreibungen findet sich in Scratons Buch ein wahrer Schatz an Anekdoten zur Geschichte Berlins. Auf seinem Weg durch die wechselnde Landschaft der Peripherie, entlang von Brachflächen, Infrastrukturen, Outlet-Centers, Villengebieten, Großwohnsiedlungen und Wäldern bringt der Autor immer nicht nur die wechselvolle Geschichte Berlins unter, er flechtet auch historische Persönlichkeiten mit ein. Die Episoden reichen von Alexander von Humboldt, der von Forscherdrang und Neugier getrieben in die Welt auszog und den stattlichen Familiensitz in Tegel gerne als „Schloss Langeweile“ bezeichnete, bis zur Villa des Schriftstellers und Theoretikers des kommunistischen Anarchismus Gustav Landauer in Hermsdorf. Heute sitzen sich hier ein Schönheitssalon und ein Steuerberater – was so Einiges über den Stand des anarchistischen Kommunismus in Hermsdorf aussagt.
Ihren Auftritt haben auch der Hauptmann von Köpenick und dessen Lehrstück über den blinden Gehorsamswillen der Deutschen sowie der Lübarser Bauer Helmut Qualitz, der kurzerhand mit seinem Trecker ein Stück Mauer, das die Hauptstraße vor Ort blockierte, einriss, weil es ihm zu lange dauerte, bis die Geschichte im Dorf endlich Fakten schaffen würde. Auch Christiane F. wird zitiert, die in Gropiusstadt aufgewachsen ist und ihr Viertel mit „überall nur Pisse und Kacke" beschrieben hat.
Die im Frühjahr vollzogene Wanderung bringt den Autor immer wieder an Orte die auf Scraton einen ziemlich düsteren Eindruck machen: Dies liegt natürlich auch an der speziellen Geschichte Berlins, nicht nur Truman, Churchill, Stalin und Hitler finden ins Buch, auch der Russische Vorstoß, der Mord an Rosa Luxemburg und die grausigen Geschichten der Mauertoten die immer wieder an den Gedenksteinen entlang des Mauerwegs zu lesen sind, finden ins Buch. Neben dem Löwenanteil an Waldflächen, durchwandert Scraton auch Zonen, die eindeutig nicht für Fussgänger geplant wurden und stellt fest, dass die Leute, die ein Hundeleben lang mit ihren Vierbeinern vor Ort – und eben auch an Unorten– Gassi gehen, diejenigen sind, die am besten Bescheid wissen über die lokalen Entwicklungen.
Ergänzt werden die Episoden durch Farbfotografien Scratons, die nicht nur auf einem Routenplan eingezeichnet sind, sondern auch die beschriebenen Gegenden und Situationen schön nachvollziehbar machen. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis – das den Bogen spannt von Richard Mabeys Edgelands über Thomas Sieverts Zwischenstadt bis hin zu Theodor Fontanes Wanderung durch die Mark Brandenburg – rundet die Publikation ab. Alles in allem macht das Buch sofort Lust, selbst los zu wandern. Nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Situation in diesem Sommer ist das Buch ein toller Reisebegleiter für eigene Entdeckungen.
Text: Tassilo Letzel
Am Rand um ganz Berlin
Paul Scraton
207 Seiten
Matthes & Seitz, Berlin 2020
ISBN 978-3-95757-843-3
22 Euro