Wenn man an Klöster der Moderne denkt, fällt einem wohl zuerst Saint-Marie de la Tourette (1953-1960) von Le Corbusier ein, und als zweites vielleicht das Benediktinerkloster St. John’s Abbey, das Marcel Breuer fast zeitgleich ab 1954 in Minnesota umplante. Weit weniger bekannt ist hingegen das Kloster Baldegg (1972) in der Zentralschweiz nahe Luzern. Es wurde ebenfalls von Breuer entworfen und steht den beiden bekannteren Anlagen in gestalterischer Kraft in nichts nach. Da das noch immer von den Baldegger Schwestern geführte Haus 2022 sein 50-jähriges Bestehen feierte, brachte man gemeinsam mit der Hochschule Luzern ein gewichtiges Buch über die gesamte Entstehungs- und Nutzungsgeschichte heraus.
Im sattgrünen Cover strahlt das Buch selbst eine klösterliche Ruhe aus. Mit viel Weißraum auf den großen Seiten nähert man sich dem Kloster auf einem gemütlichen Wanderweg und zunächst über die großzügig ausgebreiteten Fotografien von Jürgen Beck. Der Fotograf durchstreifte die Klosteranlagen zu allen vier Jahreszeiten, und es wundert einen nur kurz, dass das Buch mit dem Herbst beginnt und nicht mit dem Frühjahr. Denn andererseits, das sei den Herausgeber*innen zugestanden, endet es mit den blühenden Landschaften des Baldegger Sommers und nicht in der kargen Winterlandschaft.
Auch sonst nimmt man sich hier Zeit für eine gründliche Betrachtung. Allein die Präsentation des originalen Planmaterials vom Lageplan bis zum Ausführungsdetail breitet sich über 94 Seiten aus. Geradezu minutiös wird die Entstehungsgeschichte beleuchtet. Anschaulich erzählt Marcel Bächtinger in seinem Essay vom „Schaulaufen des helvetischen Brutalismus“ wie der Wettbewerb unter Jurypräsident Walter Maria Förderer scheiterte, weil sich der von den Fachpreisrichtern zum Sieger erklärte Hanns A. Brütsch im Dialog mit den selbstbewussten Schwestern wenig kompromissbereit zeigte, und es schließlich zum Bruch kommen musste. Wie die Schwestern daraufhin erkannten, dass keiner der sechs Wettbewerbsteilnehmer ihre Wünsche ausreichend berücksichtigte und sie dann auf Vermittlung des Luzerner Kantonbaumeisters Beat von Segesser mit Marcel Breuer in Kontakt traten. Der wiederum hörte sehr genau zu und begeisterte bereits mit seinen ersten Skizzen.
Im Buch folgt auf den Essay ein ausführliches Interview mit Schwester Hedwig Strebel, Generaloberin von 1963 bis 1981, und dem Schweizer Architekten Beat Jordi, der für Breuer das Projekt vor Ort betreute. Im Gespräch untermauern beide, wie sehr das Scheitern des Wettbewerbs die Schwestern in der Klarheit ihrer Vorstellungen für das neue Kloster bestärkte, vom äußeren Eindruck bis zum „Nachttischli“. „In der Tat ist die Leichtigkeit, mit der Breuer das komplexe Raumprogramm scheinbar mühelos in einer ebenso einfachen wie offenen Struktur unterbrachte, erstaunlich“, schreibt Bächtinger. „Im Vergleich mit den komplizierten Beiträgen aus dem Wettbewerb muten seine ersten Skizzen und die Modelle noch heute wie ein frischer Wind an einem Frühlingsmorgen an.“
Es ist eine Freude, dem Buch bei seinem ruhigen, konzentrierten und ausführlichen Blick zu folgen. Da sind die persönlichen Fotos von Schwester Marie-Ruth Ziegler, die den strengeren Architekturfotografien von Beck ein wenig farbiges Leben zur Seite stellen, und in denen nicht nur viele Schwestern bei der täglichen Arbeit vorkommen, sondern auch Regenbögen, Kornfelder und Musikanten. Eine große Menge Baustellenbilder berichtet vom Werden der Gebäude und vom Handwerk der Betonbauer und Steinmetze. Silke Langenberg und Robin Rehm schreiben über das alles durchdringende Design, das von der Fassadenstruktur bis zu den modularen Möbeln reicht. Barbara Basting durchwandert die Kunst als Teil der Architektur und des „spirituellen Lebensraums“ des Klosters.
Und da ist zum Schluss der ausführliche und hinreißende Bericht über den Entwurf eines neuen Ordenskleides, der fast parallel zu den Bauarbeiten stattfand. Die Ordensschwestern wollten mit dem Bau auch ihre Ordenstracht aktualisieren und taten sich damit schwer. Über Jordi traten sie in Kontakt mit dem Pariser Modegestalter André Courrèges und dessen Frau Coqueline Barrières. Die jahrelange, intensive Zusammenarbeit ist mit Skizzen, Notizen und Entwürfen im Buch dokumentiert. 1975 mündete sie in einer Modenschau im Kloster – auch davon zeugen Fotos – bei der den versammelten Schwestern vier Varianten präsentiert wurden: darunter eine sehr moderne, schlichte Variation, die Schwester Irène Gasser als Alternative zu den Pariser Vorschlägen entwickelt hatte.
Letztlich entschieden sich die Schwestern für den Entwurf von Gasser, wobei Gabriela Christen in ihrem Essay festhält, dass ihr Entwurf ohne die jahrelange Zusammenarbeit mit Courrèges und Barrières kaum möglich gewesen wäre. Auch den an geometrische Formen erinnernden Schleier und den unterm Kleid getragenen, weißen Rollkragenpulli sieht sie als Produkte der Kooperation. Genau wie in der Zusammenarbeit mit den Architekten entpuppten sich die Schwestern eben auch beim Entwurf ihrer Tracht als ebenbürtige und selbstbewusste Auftraggeberinnen.
Text: Florian Heilmeyer
Im Kloster Baldegg. Klösterliches Leben in einem Bau von Marcel Breuer
Gabriela Christen, Johannes Käferstein und Heike Biechteler (Hg.)
Gestaltung: Megi Zumstein
360 Seiten
Scheidegger & Spiess, Zürich 2024
ISBN 978-3-03942-230-2
68 Euro