In der Nacht des 29. Februar 1960 erschütterte ein verheerendes Erdbeben Agadir in Marokko. In nur 15 Sekunden legte es die damals 50.000-Einwohner*innen zählende Stadt fast vollständig in Trümmer. Etwa ein Drittel der Bevölkerung starb, ein weiteres Drittel wurde verletzt, und praktisch alle Bewohner*innen waren ohne Obdach. Das Erdbeben von Agadir gilt als eines der tödlichsten des 20. Jahrhunderts. Umso erstaunlicher sei es, so die Autor*innen des Buches Agadir. Building the Modern Afropolis um die beiden Herausgeber Tom Avermaete und Maxime Zaugg von der ETH Zürich, dass der entschlossene Wiederaufbau danach zwar mit viel internationaler Hilfe gelang – aber im städtebaulichen Diskurs fast keine Rolle spielt.
So beschreibt Avermaete die Ausgangslage, die zu diesem Buch als Studienprojekt der ETH führte. Und was für ein Buch! Auf knapp 400 Seiten breitet das Team eine Fülle an Materialien aus. Darunter sind Pläne, Zeichnungen und historische Fotos aus der Zeit des Erdbebens, des Wiederaufbaus und der langsamen „Wieder-Stadt-Werdung“ Agadirs, wo heute etwa 700.000 Menschen leben. Dabei gab König Mohammed V. schon am ersten Tag nach dem Erdbeben die Losung aus, dass Agadir nicht in seiner alten Form rekonstruiert, sondern als „moderne islamische Stadt“ völlig neu konzipiert und gebaut werden sollte. In der Folge schaute auch Le Corbusier einmal beim König vorbei, kam aber nicht zum Zug. Stattdessen wurde ein „High Committee“ eingesetzt, in dem vor allem marokkanische Architekten und Stadtplaner die internationale Hilfe und Expertisen orchestrierten. Das Komitee existierte als eigene, für den Neubau Agadirs zuständige Verwaltung von 1960 bis 1972. Seine Macht reichte bis zur Enteignung von Grundstücken und zum Abriss von Gebäuden.
Das Komitee entwickelte dabei keinen präzisen, umfassenden Gesamtplan, sondern teilte die neue Stadt in lockere Zentren ein für die Verwaltung, die Geschäfte, die Industrie, den Tourismus und mehrere Wohnviertel. Die Vorgaben ließen jedem Bereich genügend Freiheiten für die genaue Ausformulierung der neuen Strukturen. Dazu definierte das Komitee die „Normes Agadir 1960“, die allen Gebäuden eine grundsätzliche Struktur aus einem stabilen (und vor allem: erdbebensicheren) Stahlbetongerüst mit Ausfachungen aus Mauerwerk oder Natursteinen vorschrieb. So wuchs über die zehn Jahre der Wiederauferstehung Agadirs eine Meta-Stadt, die überall die immer neuen Variationen desselben genetischen Codes zeigt.
Die Herausgeber teilen das Buch in drei Kapitel ein: In „Foundations“ wird die Geschichte des Erdbebens und des Wiederaufbaus erzählt. In „Translations“ geht es um das Zusammenbringen von marokkanischen beziehungsweise lokalen Einflüssen und den internationalen Vorstellungen von Stadt und Architektur. In „Transformations“ schließlich geht es darum, was aus den Plänen und der Stadt insgesamt bis heute geworden ist. Es spricht für sich, dass das erste Kapitel mit 200 Seiten etwa so dick ist wie die beiden anderen Kapitel zusammen. Während die Geschichte von Zerstörung und unmittelbarem Wiederaufbau detailreich ausgebreitet wird, erhält die Gegenwart – das Fehlen eines übergeordneten Zentrums, der Rückzug des Staates aus der Stadtplanung, die gewinnorientierte Ausbreitung entlang der Küste statt nach Westen und Norden – eine eher rasche Zusammenfassung.
So sind die Beiträge vor allem begeistert von der Offenheit und Flexibilität jener „Normes Agadir“, die man heute noch überall in der Stadt entdecken kann – wie das Buch in den ausgiebigen Foto-Essays von David Grandorge zeigt. Mit der Gegenwart dieser „modernen islamischen Stadt“ tut man sich hingegen schwerer – was auch in dem arg bemühten Begriff der „Afropolis“ deutlich wird. Dieser wird zwar im ganzen Buch benutzt, aber kaum näher erläutert. Die einzige Erklärung ist, dass „Afropolis“ als eigenständiger Begriff die afrikanischen Städte als eine ganz andere Spezies definiert, als die im Diskurs so dominanten Metropolen Europas, Nordamerikas oder Asiens. Das lässt sich gut nachvollziehen, jedoch hätte man dann schon gerne gewusst, was gerade dieses Agadir so „afrikanisch“ macht, wo doch beim Neubau der Stadt gerade jene Städtebau-Ideen einer globalisierten Moderne Anwendung fanden. Interessant wäre an dieser Stelle der Vergleich Agadirs mit den Wiederaufbauten von Saint Malo oder Le Havre gewesen, was aber im Buch außer einer kleinen Notiz nicht weiter vertieft wird.
Das soll aber alles nicht darüber hinwegtäuschen, dass Agadir. Building the Modern Afropolis eine überwältigende Fülle an historischem Material präsentiert. Gerade was die Stadtgeschichte betrifft, ist die Publikation mit klugen Essays und Analysen wunderbar aufbereitet und führt einem dieses sehr spezielle Stadtschicksal ausführlich und anschaulich vor Augen. Afropolis hin oder her, dies ist ein absolut empfehlenswertes Buch.
Text: Florian Heilmeyer
Agadir. Building the Modern Afropolis
Tom Avermaete und Maxime Zaugg (Hg.)
400 Seiten
Englisch
Park Books, Zürich 2022
ISBN 978-3-03860-276-7
38 Euro