Wäre die Welt ein gerechter Ort, der amerikanische Stadtsoziologe David Harvey würde auch außerhalb der USA stets in einem Atemzug mit seinen etwa gleichaltrigen Kollegen Saskia Sassen und Richard Sennett genannt werden. So aber sind seine frühen Werke wie zum Beispiel „Social Justice and the City“ (1973), „The Urbanization of Capital“ (1985) oder „The Condition of Postmodernity“ (1989) ohne Übersetzung in andere Sprachen geblieben und damit weitgehend dem englischsprachigen Diskurs überlassen worden. Dabei sind Harveys Bücher oft sehr präzise Analysen einer globalisierten, kapitalistischen Stadt- und Architekturproduktion, sind deutlich lesbarer als etwa Manfredo Tafuri und beziehen kämpferischer Position als Sennett oder Sassen. Würde man einen politischen Vergleich bemühen, wäre Harvey der Bernie Sanders der amerikanischen Stadtsoziologie und Sennett Hilary Clinton.
Das vorliegende, schlanke Büchlein „Abstract from the Concrete“ ließe sich auch gut als „Harvey für Einsteiger“ beschreiben. Es ist die fast wortgetreue Mitschrift eines Vortrags, den er 2016 an der Harvard Graduate School of Design GSD gehalten hat und der sich auch heute noch brandaktuell liest. Er beginnt den furiosen Vortrag mit einer „schlichten Tatsache“: In China wurden zwischen 2011 und 2013 etwa 6.500 Millionen Tonnen Zement verbaut. Das liegt gut 45 Prozent über dem Zementverbrauch der USA im gesamten 20. Jahrhundert. Da bleibt einem schon einmal kurz die Spucke weg, und währenddessen eilt Harvey bereits weiter. Er widmet sich den in China nach der Wirtschaftskrise 2008 staatlich angeschobenen Urbanisierungsprogrammen, die er im Wesentlichen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bewertet; denn mit dem Rückgang der Exporte gingen in China rund 30 Millionen Jobs verloren, die irgendwo aufgefangen werden mussten. Dies geschah offenbar vor allem durch den Bau neuer Städte und Infrastrukturen. So wäre der enorme Stahl- und Zementbedarf des Landes zu erklären.
Nebenbei stellt Harvey kurz und fröhlich klar, dass es ihm nicht um China-Schelte, sondern um Kapitalismus-Analyse geht. Und schon hüpft er locker einmal um die Welt, folgt dem chinesischen Rohstoffstrom flussaufwärts zu den Lieferanten in Südamerika oder Australien, tangiert den Bauboom in Erdogans Türkei, nimmt den Bad Urbanism in Brasilien aufs Korn und unterstreicht im wilden Ritt immer wieder die komplexen globalen Verbindungslinien zur Immobilienkrise in den USA nach 2008.
Dieser Monolog ist von schwindelerregender Qualität. Gelegentlich wünscht man sich doch ein ausgereifteres Buch, in dem Harvey seine atemlosen Aufzählungen mit ausführlicheren Argumentationen belegen würde. Sein Vortrag hingegen funktioniert ähnlich wie ein Fahrrad, das an Stabilität gewinnt, je schneller es fährt. Vertiefungen muss man woanders suchen. Und letztlich ist es gerade die strudelnde Sogwirkung von Harveys raschem Redefluss, die dieses kleine Buch so überaus lesens- und nachdenkenswert macht.
Dabei hilft auch die sparsame Gestaltung der Bücher aus der Reihe „The Incidents“, in der die GSD gelegentlich herausragende Vorträge publiziert. Sie kommen ohne jede Abbildung aus, und der Vortragstext läuft ausschließlich auf den rechten Buchseiten; so bleibt links Raum für eigene Notizen. Ziel ist die volle Konzentration auf den Text. So sind die raschen Nebenbemerkungen, die flüchtigen Verknüpfungen und Analysen lesbarer und inspirierender als in einem ausgiebigen Buch.
Man muss Harveys Positionen keinesfalls teilen, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen. Immerhin bietet es eine nachvollziehbare und charmant vorgetragene Erzählung, verbunden mit einer eindeutigen Haltung zu den weltweiten Kapitalströmen, die unsere gebaute Umwelt definieren. Das ist ausgesprochen anregend und kann jedem Stadtplaner, Soziologen und Architekten nur wärmstens zur Lektüre empfohlen werden.
Text: Florian Heilmeyer
The Incidents: Abstract from the Concrete
David Harvey
174 Seiten
Englisch
Sternberg Press, Berlin 2016
ISBN 978 3 95679 261 8
12 Euro
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Marc Laugier | 08.05.2019 15:38 UhrKevin Kuehnert
"Man muss Harveys Positionen keinesfalls teilen, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen."
Schnell noch rhetorisch absichern. Denn wer will heute noch als Sozialist gelten? Das schadet nur der Karriere.