Die Kunst des Architekturessays ist vom Aussterben bedroht. Kaum ein Medium, ob Print oder Online, erlaubt sich heute noch solche Freibriefe für Autor*innen, bei denen es alleine um Argumentationen geht, die sich ihre Länge selbst suchen dürfen. Nein, in den Planungen von Architekturmedien gibt es heute sofort eine Vorgabe in Zeichenzahlen, die nicht zu überschreiten ist. Mehr als 9.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) lesen unsere Leser*innen leider nicht.
Der Essay aber sucht sich – wie der Flaneur – seine eigene Geschwindigkeit und Länge, nicht nach Vorgaben, sondern alleine nach der Menge an Gedanken, die es zu Ende zu erzählen gilt. Da freut es umso mehr, wenn hier und dort ein Sammelband mit lesenswerten Essays erscheint. Der britische Autor, Kunst- und Architekturhistoriker Irénée Scalbert ist unbestritten ein Meister solcher Texte. In A Real Living Contact with the Things Themselves hat er neun seiner Essays versammelt, die zwischen 1994 und 2015 unter anderem in den Zeitschriften Archis, AA Files oder San Rocco veröffentlicht wurden. Sie sind thematisch höchstens lose miteinander verbunden. Manchmal geht es um einzelne Gebäude, darunter weltbekannte wie das Fährterminal in Yokohama von FOA oder das Engineering Building in Leicester von James Stirling und James Gowan, aber auch weitgehend unbekannte wie die Kunstgalerie Walsall von Caruso St John. Wieder andere Essays handeln von der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, von der Kraft der französischen Gotik oder von der „Rokoko Revolution“.
Warum also lohnt es sich, diese zum Teil deutlich gealterten Texte heute zu lesen? Da ist zuerst die Sprache, denn des Briten Scalberts durchaus komplexes Englisch ist stellenweise eine angenehme Herausforderung von – vielleicht nur fürs deutsche Auge? - geradezu Shakespear’scher Qualität. Es macht aber vor allem Spaß, sich mit Scalbert auf Tauchfahrt in die Tiefen der Architekturgeschichte zu begeben und wie aus dem Inneren einer Taucherglocke seinem Scheinwerfer zu folgen, der uns ganz langsam verschiedene Stellen hell beleuchtet und erklärt, um dann langsam zur nächsten Stelle zu wandern.
Ganz besonders sei hier der Essay über das Economist Building in London von Alison und Peter Smithson hervorgehoben, der sich aus Gesprächen mit mehreren, direkt am Bau beteiligten Personen speist und eine wunderbar mitreißende Geschichte erzählt. Scalbert seziert vor unseren Augen die Entstehungsgeschichte dieses Gebäudes – wie übrigens auch die des Engineering Buildings in Leicester – und man erfährt letztlich weitaus mehr über Architektur und wie sie in die Welt kommt, als bei den auf Zeichenzahl genau getrimmten Betrachtungen vieler aktueller Gebäude. Scalbert tut also genau das, was Kritik tun sollte: Den Gedanken, aus denen Gebäude entstanden sind, einen Raum zu geben. Auf dass die Gedanken in diesem widerhallen und weiterwandern können.
Text: Florian Heilmeyer
A Real Living Contact with the Things Themselves
Irénée Scalbert
Park Books, Zürich 2018
312 Seiten
Englisch
ISBN 978-3-03860-111-1
29 Euro