„Schon wieder Brutalismus?“, fragte unser Rezensent im Frühjahr, als er Brutalismus in Österreich 1960–1980 vorstellte. In neun Aufsätzen diskutieren die Autor*innen des Bandes die „regionalspezifischen Ausformulierungen“ des internationalen Phänomens Brutalismus. Mit Brutalist Italy. Concrete architecture from the Alps to the Mediterranean Sea liegt nun ein Buch vor, das den Blick etwas weiter nach Süden richtet. Brutalist Italy ist außerdem ein reines Fotobuch.
Die beiden Architekturfotografen Roberto Conte und Stefano Perego haben sich gar nicht erst bemüht, etwas über die Bauten zu schreiben, sondern ganz auf das konzentriert, was sie am besten können: fotografieren. Die Objekte kommen ihnen dabei freilich sehr entgegen. Die 103 Bauten zwischen Südtirol und Sizilien beeindrucken auch Kenner*innen des Brutalismus, die sich bisher noch nicht genauer mit Italien beschäftigt haben.
Um etwas intellektuelle Orientierung zu bieten, gibt es am Anfang des Buchs eine knappe Einleitung von Adrian Forty. Der Text des Londoner Architekturhistorikers, der lange an der Bartlett School of Architecture gelehrt hat, ist unbedingt lesenswert. Denn mit dem inzwischen 75-jährigem Forty haben die beiden Mailänder Fotografen ein intellektuelles Schwergewicht für ihr Buchprojekt gewinnen können.
Forty bringt die Spezifitäten des italienischen Brutalismus klug auf den Punkt, indem er sich an seine Reisen nach Italien in den frühen 1990er Jahren erinnert. Damals musste er feststellen, dass der Umgang mit Sichtbeton dort anders ist als in den Ländern des nördlichen Europas, zu denen er bis dahin geforscht hatte. Er spricht von „semantischer Komplexität“ und „Heterodoxie“ – und meint damit eine Lust am freien Spiel mit Sichtbeton, an der Kombination mit anderen Materialien, am Herausarbeiten der gegensätzlichen ästhetischen Möglichkeiten des Materials. Man blättert weiter, staunt, denkt nach – und erwischt sich dabei, im Kopf bereits einen Roadtrip quer durch Italien zu planen.
Text: Gregor Harbusch
Brutalist Italy. Concrete architecture from the Alps to the Mediterranean Sea
Roberto Conte, Stefano Perego
Englisch/Italienisch
200 Seiten
Fuel, London 2023
ISBN 978-1-7398878-3-4
27,99 Euro
Zum Thema:
Mit den aufregenden Bauten der norditalienischen Nachkriegsmoderne beschäftigen sich vor einigen Jahren bereits Martin und Werner Feiersinger. Ihre beiden Bände mit dem Titel Italomodern stellten wir in Baunetzwoche#246 und Baunetzwoche#427 vor.
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