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16.06.2017
Kapitelle der Kapitale
Warschaus antikisierende Bauformen
Von Elke Nagel
Mehrfach im Lauf der Geschichte wurden antike Bauglieder als formale Anleihen in die zeitgenössische Formensprache übersetzt. Namensgebend in der Renaissance wie auch im Historismus war die Antikenrezeption ein probates gestalterisches Mittel. Baumeister und Architekten besannen sich auf Proportionen, Bauglieder und Zierformen, deren Ursprung in der griechischen oder römischen Antike zu suchen ist. Vor allem Säulen mit Schaft. Basis und Kapitell fanden vielerorts Verwendung, nicht selten in abgewandelter Form als Halbsäulen oder Pilaster in rein dekorativer Mission, wobei eine Verschiebung der Tempel-Bauformen vom sakralen in den profanen Kontext stattfand.
Auch in Warschau finden sich Säulenstellungen oder Säulenmotive, beispielsweise am Königsschloss und an den entlang des Königswegs gereihten repräsentativen Prachtbauten, wie sie in jeder europäischen Hauptstadt zu bewundern sind. Die Betrachtung von Säulen und Kapitellen lohnt sich in einer Stadt, deren Bedeutung zwischen europäischem Rang und fataler Abhängigkeit oszilliert, deren Säulenheiliger Sigismund mitsamt seinem Standbein mindestens sieben Mal versetzt wurde. Antikisierende Bauformen verleihen Prachtbauten eine gewisse Altehrwürdigkeit, die nicht selten mit dem Ziel der Traditionalisierung des Machtanspruchs der Bauherren einherging. Auf den ersten Blick gilt das auch für Warschau.
Und doch ist hier alles anders: Die Rezeption fand doppelte Anwendung. Erstmals bei der Errichtung der Bauten als stilistische Reminiszenz. Im zweiten Schritt erfolgte eine Rezeption der Rezeption beim Wiederaufbau nach der Kriegszerstörung. Beide Male antikisierend, beide Male mit einer gehörigen Portion bauzeitlicher Gestaltungsfreiheit. Und zumindest im Fall des Königsschlosses als scheinbare Restitution zur Legitimierung des Baus durch die bewusste Inanspruchnahme eines Platzes in der Geschichte.
Kaum eine gestalterische Idee wurde von der Geschichte so in die Mangel genommen wie das ionische Kapitell. Während man sich bei den Großformen der Fassadengliederung noch weitgehend an den definierten Formenkanon hielt, findet sich im Kleinen ein buntes Gemisch der Bauformen. An seine Urahnen erinnert oft nur noch die charakteristische Volute. Selbst auf die Schneckenform reduziert, sind die Bezüge zur Antike unverkennbar.
Dem probaten Rezept der Rezeption folgten auch die Monumentalbauten des europäischen Nationalismus: Säulen- und Pfeilerstellungen soweit das Auge reicht. Die Pfeiler mit ihrer Rechteckform verleihen dem Baustil eine eigene Semantik, die nur noch in der Fernwirkung an die antiken Tempel erinnert. Doch der subtile Kunstgriff der ausgeschiedenen Kapitelle beweist den rezeptiven Ansatz und verleiht dem Rechteckpfeiler Eleganz, dem spektakulär grazilen Vordach Leichtigkeit.
Rückgriffe auf die Antike in vergangenen Epochen sind allen ein Begriff, doch sage keiner, sie seien nicht auch modern. Spätestens mit den Neubauten der Nachkriegszeit wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Rückkehr zum Original nach den puristischen Abwegen der Moderne ist ebenso programmatisch wie die Wahl der Vorbilder.
Die (bedeutungs-)schwere Dorica verfehlt ihre Wirkung am Kulturpalast nicht. Wurde die ionische Ordnung mit der Wissenschaft und die korinthische mit der Kunst assoziiert, so gehörte die dorische Ordnung zur Macht. Die immanente Monumentalität wird gezielt eingesetzt, Grazie war hier nicht beabsichtigt. Erst in der Gesamtschau wirkt der Zuckerbäckerstil des Kulturpalastes wie aus einem Guss. Im Inneren tobt sich die Antikisierung aus. Nicht nur die Hallen mit umlaufenden Pfeilern erinnern an die Tempel, auch Kassettierung der Decke und die Motive der Details sind Leihgaben. Die vielfältigen Formvorlagen sind das Kapital des Gestalters.
So werden auf den Pfeilerkapitellen das ionische Kyma (Eierstab) und der Astragal (Perlstab) mit stilisierten Akanthus-Blättern zu einem Fries zusammengefügt, als Architrav verkleidete Unterzüge tragen die Decke. Ein Zahnschnitt ziert den Übergang zum Deckenspiegel. Der bunte Strauß kleinasiatischer Stilblüten wird durch die Flechtwerkmotive komplettiert.
Das Spiel von Licht und Schatten der Säulenhalle ist ein Urbild der Fassadengliederung. Seine Übertragung in ein flächendeckendes Relief findet eine Weiterentwicklung im Haus der Partei, das unmittelbar nach dem Krieg begonnen wurde. Historismus und sozialistischer Realismus tragen den Konflikt um die stilistische Vorherrschaft auf dem Rücken der Halbsäulen und Pilaster aus.
In der Wirtschaftshochschule SGH scheint als Motto „Säule und Kapitell neu gedacht“ vorzuherrschen. Im Kuppelsaal der Bibliothek findet sich diese moderne Neuinterpretation der Kannelur in Form eines sternförmigen Säulenschaftes und eine geometrische Kapitellkomposition, die gerade wegen ihrer Einfachheit an Wirkung schwer zu übertreffen ist. Außergewöhnliche Exemplare sind die Blumen-Säulen der Vorhalle. Der Schaft ähnelt einem Stängel, das Kapitell der Knospe bzw. dem Blütenstand und das Glasdach entfaltet sich darüber wie eine leuchtende Blüte. Die vegetabile Anmutung wird durch die Auflösung des Abakus in geschwungene Formen verstärkt.
Ein Festakt für Palladio ist das Naturkundliche Institut in der Nachbarschaft der Wirtschaftshochschule. Mit dem klassischen Bogenmotiv als Grundlage und der Ergänzung durch Balkone und Glasdach entsteht ein moderner musealer Innenhof.
Nicht komplementär, sondern kontrastierend eingesetzt werden die antikischen Schmuckformen im Muranow-Kino. Die Raumausstattung symbolisiert die Gratwanderung des Kinos zwischen (Film-)Theater mit klassischer Architektur und technologischer Innovation in neuen Formen. Die Umkehrung der Hierarchie durch Einziehung des Kapitellbereichs gegenüber dem breiteren Schaft lässt sich salto capitale der modernen Formgebung werten.
Metaphorische Säulen des Gesetzes schließen den Reigen. Selbst zum Ende des 20. Jahrhunderts baute man auf die stilistische Legitimation. Kapitale Kapitelle thronen auf Pfeilern, Repräsentation der antiken Idee und in der neuartigen Materialität gleichzeitig Repräsentanten ihrer eigenen Zeit. Die Zeichenhaftigkeit der Auflösung am äußeren Rand erinnert entfernt an die Ruinenromantik der Staffagebauten des 18. Jahrhunderts. Sie eröffnet, wie ihr Vorbild, Raum für Gedanken. Beispielweise für das Weiterdenken im Kleinen der Säule und ihres Hauptes oder die architektonische Zukunft der Hauptstadt.
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