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31.07.2024
Buchtipp: Brutalistische Nekropole
Chacarita Moderna Buenos Aires
„Ich fühlte mich wie Orpheus, der in die Unterwelt absteigt“, beschreibt die französische Architektin Léa Namer ihren ersten Besuch des Sexto Panteón, einer unterirdischen Grabanlage auf dem Friedhof Chacarita in Buenos Aires. Ein befreundeter Architekt hatte sie 2014 zu diesem versteckten Bau geführt, der sich für Namer als architektonische Sensation darstellte. Was oberirdisch wie eine geometrisch strukturierte Parkanlage mit einigen brutalistischen Pavillonbauten erschien, entpuppte sich als ein zwei Geschosse in die Tiefe reichender Betonkomplex mit riesigen Treppenanlagen und baumbestandenen Lichthöfen.
Erst beim Hinabsteigen zeigte sich die immense, labyrinthartige Dimension der Totenstadt mit rund 150.000 Grabplätzen, die zwischen 1949 und 1966 in drei Bauetappen errrichtet wurde. Sie ließ Namer unmittelbar an eine moderne Interpretation der Römischen Katakomben denken. Die Frage, wer dieses beeindruckende Bauwerk konzipiert hatte, blieb allerdings ohne Antwort. Kaum jemand kannte das Sexto Panteón. So begann eine mehrjährige Recherche, die schließlich zu einer der ersten Architektinnen Argentiniens und in Vergessenheit geratenen Pionierin der südamerikanischen Moderne führte: Ítala Fulvia Villa (1913–1991). Ihrem Hauptwerk widmete sich Namer nicht nur in mehreren Ausstellungen, sondern mit Chacarita Moderna nun auch in Form einer wunderbar gestalteten Publikation.
Der argentinische Fotograf und Architekt Federico Cairoli hat den Charakter dieses besonderen Ortes so gut eingefangen, dass seine Bildstrecken einem kontemplativen Spaziergang gleichen. Darin eingestreut sind Texte von Namer und Ana María León. Durch die Schriften der ecuadorianischen Architekturwissenschaftlerin konnte Namer mehr über Ítala Fulvia Villa erfahren: Beispielsweise gehörte sie der Grupo Austral an, einem 1938 in Buenos Aires gegründeten Avantgarde-Architekturkollektiv mit engen Bezügen zu Le Corbusier. An dessen nicht realisiertem Masterplan für Buenos Aires hatte die Architektin übrigens mitgearbeitet.
Anfangs war Namers akribische Spurensuche, die sie in einem ihrer Texte nachzeichnet, durch reine Neugier motiviert. 2018 jedoch schrieben sowohl ein Zeitungsartikel als auch ein Eintrag im Buch Atlas of Brutalist Architecture das Sexto Panteón Clorindo Testa zu, Argentiniens wohl bekanntestem brutalistischen Architekten. Wie Namer recherchierte, war dieser zwar Teil des Planungsteams gewesen, dessen Leitung aber hatte Villa inne.
Damit wurde für die junge Pariser Architektin Namer aus der Angelegenheit ein echtes Projekt. Ihr Ziel: Ítala Fulvia Villa und ihr wichtigstes Werk wieder zu öffentlicher Aufmerksamkeit zu verhelfen – stellvertretend für die vielen Architektinnen ihrer Zeit, deren Namen und Arbeit übersehen, vergessen oder zugunsten männlicher Kollegen in den Hintergrund gerückt wurden. Das Buch endet mit einem Dokumentationsfoto: Im März 2023 bringt Léa Namer am Eingang des Sexto Panteón eine Plakette an, die Ítala Fulvia Villa als hauptverantwortliche Architektin ausweist.
Text: Diana Artus
Chacarita Moderna. La nécropole brutaliste de Buenos Aires
Léa Namer
Fotografien: Federico Cairoli
Französisch/Englisch
224 Seiten
Building Books, Paris 2024
ISBN 978-2-492680-19-9
35 Euro
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Luftaufnahme des Sexto Panteón auf dem Friedhof Chacarita in Buenos Aires
Der brutalistische Bau reicht zwei Geschosse tief in die Erde.
Große Treppenanlagen führen hinab in die Nekropole.
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