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23.05.2024

Buchtipp: Einklang statt Alleingang

Architektur Klima Atlas


Das ureigene Ziel der Architektur ist es, dem Menschen eine wohltemperierte, räumlich gefasste „Umwelt“ zu schaffen. In Zeiten steigender Erderwärmung stößt diese Vorstellung an ihre Grenzen. Zunehmend ist es nicht mehr das Innenraumklima, das durch den Menschen geschaffen und kontrolliert wird – sondern es ist der Mensch, der sich dem Klima anzupassen hat. Dieser Kehrtwende geht das Buch Architektur Klima Atlas in Geschichte, Forschung und Praxis nach. Es versteht sich als Handbuch und ging aus Forschungen des Instituts Konstruktives Entwerfen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW hervor.

Dass ein Bewusstsein für klimatische Rahmenbedingungen des Bauens schon immer Teil der Architektur war, wird in der Publikation mit Verweis auf die Baugeschichte gezeigt. Denn „betrachtet man die Baugeschichte aus der Perspektive des Energieverbrauchs, der CO2-Emissionen und der Umweltbelastungspunkte, entsteht ein überraschendes Bild“, so Mitherausgeber Jürg Graser.

Und wo fängt eine solche Betrachtung an? Natürlich bei Vitruv! Bereits der römische Theoretiker beschäftigte sich mit klimatischen Phänomenen, um eine optimale Belichtung oder Gebäudeerwärmung zu ermöglichen. Anhand von zwanzig solcher bauhistorischer Positionen skizziert die Publikation eine Geschichte des klimabewussten Bauens. Dabei werden auch weniger bekannte Akteure diskutiert, etwa der Architekt Rudolf Gaberel (1882–1936), der mit dem sogenannten Davoser Dach die Entwicklung des sommerlichen Wärmeschutzes mitprägte. Die Entsteheung der Solararchitektur wird am Beispiel der Micafil-Fabrik in Zürich von Pierre Robert Sabady (1938–1994) ausführlich thematisiert.

Nach dem Ausflug in die Architekturgeschichte springt das Buch zu fünf aktuellen, detailliert dokumentierten Forschungen des Instituts, die sich um Energieverbrauch, Emissionen und Umweltbelastung konkreter Bauten drehen. Diskutiert werden drei „sanfte Sanierungen“ historischer Bauten, eine Siedlung Ernst Gisels aus den 1970er Jahren sowie eine 2011 fertiggestellte Siedlung von Knapkiewicz + Fickert. Durch technische Zeichnungen werden raumplanerische Charakteristika und Veränderungen sowie baukonstruktive Details anschaulich gemacht. Vor diesem Hintergrund lässt sich klimabewusstes Bauen nicht nur als konstruktive Bauaufgabe, sondern als ganzheitlicher architektonischer Entwurfsansatz verstehen.

Das letzte Drittel der über 450 Seiten langen Lektüre verspricht Orientierung in der praktischen Anwendung. Hier definieren die Herausgeber*innen sechs Adjektive, die innerhalb der Debatte um klimagerechtes Bauen als Fixpunkte dienen sollen. Um ein neues „Gleichgewicht zwischen unserem Lebensstandard und dem Ökosystem Erde“ zu finden, habe klimabewusste Architektur etwa ihr Verhältnis zum regionalen Klima, ihrer Wandlungsfähigkeit und ihr Materialbewusstsein zu prüfen. Der Appell zu mehr Erfindungsgeist in Architektur, Gebäudetechnik und Lehre erinnert dabei an die in Deutschland aktuell geführten Debatten zum Gebäudetyp-e, der wir kürzlich eine Baunetzwoche gewidmet haben.

Mit Fachausdrücken, Koeffizienten oder Normen lässt einen das Buch nicht alleine. Erklärungen und Grafiken finden sich an diversen Stellen und machen die Inhalte sowohl für Fachfremde und Studierenden als auch Architekt*innen zugänglich und anwendbar. Wer sich also in Lehre, Forschung oder Praxis für klimabewusstes Bauen interessiert, sei unbedingt an die vorgestellten Projekte, Entwurfsansätze und technischen Erklärungen des Architektur Klima Atlas verwiesen. 

Text: Kjell Reiter

Architektur Klima Atlas
Klimabewusst entwerfen in Forschung, Lehre und Praxis
Jürg Graser, Astrid Staufer, Christian Meier (Hg.)
456 Seiten
Park Books, Zürich 2024
ISBN 9783038603030
48 Euro


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