- Weitere Angebote:
- Filme BauNetz TV
- Produktsuche
- Videoreihe ARCHlab (Porträts)
06.12.2022
Buchtipp: Städtische Wohnquartiere in Venedig
Urbane Gestalt zwischen modernen Anforderungen und lokaler Bautradition
Während sich der Karl-Marx-Hof, erbaut im Roten Wien, über mehr als einen Kilometer erstreckt, sind für das Neue Frankfurt nicht weniger als 12.000 Wohnungen entstanden. Ganz anders und vor allem viel kleinteiliger muten demgegenüber die Ansätze an, mittels derer man in der Zwischenkriegszeit die Wohnungsfrage in Venedig zu beantworten suchte. Acht dieser Vorhaben stellt Alexander Fichte in seiner Publikation Städtische Wohnquartiere in Venedig vor.
Anhand der Veröffentlichung, die aus einer Dissertation an der Technischen Universität Dortmund hervorgegangen ist, wird deutlich, dass die besondere Entwicklung, die der venezianische Wohnungsbau in den Jahren von 1918 bis 1939 nahm, keineswegs allein auf die lokalen Gegebenheiten zurückzuführen ist. Zwar ist selbstverständlich, dass Venedig aufgrund seiner einzigartigen Lage nicht die Erweiterungsflächen zur Verfügung standen, auf die andere Städte zurückgreifen konnten. Auch war der Wert des historischen Stadtbildes, das die Lagunenstadt seit dem 19. Jahrhundert zum Gegenstand romantischer Sehnsüchte wie zum Ziel touristischer Reisen gemacht hatte, schon frühzeitig als erhaltenswürdig erkannt worden.
Allerdings, so macht der Autor deutlich, wurde der venezianische Wohnungsbau nach dem Ersten Weltkrieg ebensosehr durch die nationale Gesetzgebung bestimmt. Indem die allein private Wohnbautätigkeit nach 1918 weitgehend zum Erliegen gekommen war, oblag die Errichtung von Wohnstätten halbautonomen Instituten wie dem in Venedig wirkenden Istituto Autonomo Case Popolari. Neben dem Anspruch, sozialen und hygienischen Missständen entgegenzuwirken, legte die als IACP abgekürzte Einrichtung auch auf ästhetische Aspekte Wert. Als Orientierung an lokaltypischen Gestaltungsweisen verstanden, konnte diese Praxis im Faschismus eine Fortführung finden – zielte doch die Baupolitik unter Mussolini, maßgeblich durch die römischen Architekten Gustavo Giovannoni und Marcello Piacentini geprägt, auf die Verbindung von Avantgarde und Tradition ab.
Den folglichen Versuchen, „die lokale bauliche Identität in die Gegenwart zu transportieren“, nähert sich Fichte, indem er von der ‚Urbanen Gestalt‘ Venedigs ausgeht. Diese möchte er verstanden wissen als den „physisch und visuell wahrnehmbaren Ausdruck der zahlreichen Rahmenbedingungen, unter deren Einfluss sich eine Stadt entwickelt“. Dabei untersucht er jedes der acht Vorhaben, zu denen Nachverdichtungsprojekte ebenso wie Kleinstwohnungsbau für die bedürftige Bevölkerung und komplexe Stadterweiterungen mit eigener Infrastruktur gehören. Bei Areal und Erschließung beginnend, schreitet er in seinen Analysen über den Block bis zur Fassade voran.
Dadurch, dass er den venezianischen Projekten andere, zu gleicher Zeit errichtete Wohnbauquartiere im italienischen In- und europäischen Ausland gegenüberstellt, macht er deutlich, dass der Anspruch, an lokaltypische Gestaltungen anzuknüpfen, keineswegs ein Unikum gewesen sei, in der Lagunenstadt aber gleichwohl eine einzigartige Umsetzung gefunden habe. Gerade im Hinblick auf die besondere Situation der italienischen Institute hätte hier ein weitergehender Vergleich der verschiedenen lokalen und nationalen Planungsstrukturen interessant sein können.
Der Autor resümiert, dass die Strategie, der Venedig sich in der Zwischenkriegszeit bediente, für kommende Erweiterungs- und Nachverdichtungsvorhaben „in Teilen aufschlussreich“ sein könne. Indem er zugleich auf die „Unvereinbarkeit der neuen Wohnstandards mit der traditionell dichten Urbanen Gestalt“ hinweist, macht er aber gleichwohl deutlich, dass jede Bezugnahme auf die Architekturgeschichte nach zeitgemäßer Interpretation verlangt. Bemerkenswert bleibt schließlich die Erkenntnis, dass trotz aller Bemühungen, die Tradition aufzugreifen und fortzuführen, in keinem der acht vorgestellten Projekte neue Kanäle angelegt wurden. Der Grund dafür lag nach Einschätzung des Autors in dem Bemühen, sowohl Flächen als auch Kosten zu sparen.
Text: Achim Reese
Städtische Wohnquartiere in Venedig (1918–1939). Urbane Gestalt zwischen modernen Anforderungen und lokaler Bautradition
Alexander Fichte
Gestaltung: Felix Holler, Stoffers Graphik-Design
192 Seiten
Jovis, Berlin 2022
ISBN 978-3868597523
35 Euro
Kommentare:
Kommentar (1) lesen / Meldung kommentieren
Calle Ca'Matta in Santa Marta
Fondamenta Carlo Coletti am Eingang zum Quartier San Girolamo
Ramo Primo Piave im Quartier Madonna dell'Orto
Übersicht der untersuchten Quartiere
Bildergalerie ansehen: 8 Bilder