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11.07.2022

documenta fifteen in Kassel

Entdeckungen jenseits des Skandals


Seit Mitte Juni läuft die Documenta in Kassel. Doch nachdem auf einem Kunstwerk klar antisemitische Bezüge erkannt wurden, kommt die Ausstellung nicht zur Ruhe. Während sich das Kurator*innenkollektiv Ruangrupa inzwischen seiner Verantwortung stellt, drückt sich die deutsche Leitung weiterhin vor Konsequenzen. Nunmehr hat die Künstlerin Hito Steyerl ihre sehr gelungene Arbeit zurückgezogen, und Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank, der die Documenta beraten sollte, warf ob der Untätigkeit der Documenta-Leitung gleich wieder hin. Die institutionelle Ignoranz ist mehr als ein Trauerspiel, doch trotz aller berechtigter Kritik gibt es in Kassel viel zu entdecken.

Von Stephan Becker

Die wichtigste Frage zuerst: Kann, darf, sollte man die diesjährige Documenta nach den Skandalen und Verwerfungen der letzten Wochen noch besuchen? Dahingehend eine klare Empfehlung auszusprechen, ist kaum möglich, aber für sich selbst Position zu beziehen, vielleicht schon notwendig. Nach allem, was zuletzt zu lesen und zu sehen war, gehört für viele zumindest der Rücktritt der Generaldirektorin Sabine Schormann zu einer der Voraussetzungen, um die Ausstellung noch zu retten. Schormanns Statements klingen nämlich längst nicht mehr nur ungeschickt, sondern so, als ob sich hier jemand durchzumogeln versucht, der die Kritik immer noch nicht so recht verstanden hat – oder verstehen möchte. Dazu passt, dass sich Schormann – ebenso wie der Kassler Oberbürgermeister Christian Geselle als Aufsichtsratsvorsitzender der Documenta-Gesellschaft – bei der Aufarbeitung im Kulturausschuss des Bundestages vergangene Woche entschuldigen ließ.

Immerhin war mit Ade Darmawan zumindest ein Vertreter des kuratierenden Kollektivs Ruangrupa vor Ort, was unbedingt als positives Zeichen für den Willen des Teams zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus-Problem ihrer Ausstellung gesehen werden muss. Auch Konsequenzen für Ruangrupa waren hier und da ja schon gefordert worden. Den Kritker*innen muss aber auch bewusst sein: Bei aller notwendigen Empörung kann man sich in einem Land wie Deutschland, in dem es pro Jahr 2.700 antisemitische Vorfälle gibt und in dem selbst großen Tageszeitungen regelmäßig antisemitische Karikaturen „durchrutschen“, allzu viel Selbstgerechtigkeit nicht erlauben.

Mal rein hypothetisch: Müsste ein Rücktritt von Ruangrupa zugleich auch das vorzeitige Ende der Documenta Fifteen bedeuten? Dieses Gedankenspiel führt einen merkwürdigerweise zu den positiven Seiten Ausstellung. Denn mehr als je zuvor haben Ruangrupa mit ihrer Einladung an 50 Kollektive, die wiederum weitere Kollektive und Individuen eingeladen haben, die Kontrolle aus der Hand gegeben. Und das bedeutet umgekehrt eben auch, dass in Kassel längst ein gewisses Eigenleben entstanden ist, das sich vielleicht doch losgelöst von der nach wie vor schwelenden Krise um die klar antisemitischen Beiträge einiger Teilnehmer*innen betrachten lässt.

Zu sehen gibt es nämlich viel in Kassel, gerade aufgrund der fast schon agnostischen Heterogenität der Kollektive. Postkoloniale Themen spielen dabei natürlich eine Rolle, aber ebenso wichtig sind Traditionen von emanzipativer Selbstorganisation oder kollektiver Wissensproduktion. Solchen Ansätzen, wie sie auch hierzulande jenseits des kommerziellen Kunstbetriebs eine lange Geschichte haben, eine derart große Bühne zu öffnen, ist ein großer Verdienst von Ruangrupa – unabhängig von jeglicher Nord-Süd-Dichotomie. Dass die Documenta als Institution darüber hinaus Ressourcen und Aufmerksamkeit bietet, von denen viele der kunstmarkfernen Teilnehmer*innen nachhaltig profitieren werden, kommt hinzu. Vielleicht ist der externe Blick des Publikums ebenso wie die Meinung der Kritiker*innen in diesem Fall tatsächlich einmal sekundär? Zumal sich viele der geladenen Gruppen und Kollektive anderswo im globalen Kunstkontext längst bewiesen haben.

Hinzu kommt, dass trotz des Versagens der Leitungsebene die kollektive Basis in Kassel nicht nur für eine äußerst abwechslungsreiche, sondern auch optimistische Ausstellung sorgt. Ja, es gibt die flache Propagandakunst und ja, manches zeugt vom prozessualen Charme eines 70er-Jahre-Plenums. Auch touristischen Folklore-Kitsch gibt es und plakative Kolonialismuskritik. Aber angesichts der vielen Teilnehmer*innen mangelt es eben auch nicht an gelungenen Arbeiten und Installationen – Richard Bell, Black Quantum Futurism, Nino Bulling, Pinar Ögrenci oder La Intermundial Holobiente wären hier zu nennen. Hinzu kommen vielversprechende Archiv-Präsentationen und einige Kollektive, die innerhalb des großen Rahmens eigene Ausstellungen mit weiteren Künstler*innen präsentieren.

Von der ermüdenden Gleichförmigkeit, wie sie Großausstellungen manchmal kennzeichnet, ist hier jedenfalls nichts zu spüren. Und auch die Anschlussfähigkeit für ein in Kassel typischerweise weit gefächertes Publikum dürfte größer sein als bei vergangenen Ausgaben, wenn neben Kunst auch mal Community-Design oder eine kollektive Druckerei zu entdecken ist. Konkret präsentiert sich die Documenta in diesem Sinne als ein meist fröhliches Durcheinander von Menschen, die sich mit künstlerischen Mitteln die Welt erschließen – was ja nicht unbedingt die schlechteste Vision einer friedlicheren Zukunft ist. Dass zu einem erfolgreichen Besuch vor Ort natürlich auch gehört, so manches beherzt zu ignorieren, versteht sich von selbst.

Doch was erwartet jene Documenta-Besucher*innen, die mit einem Architektur-Background nach Kassel kommen? Tatsächlich sind raumbezogene Arbeiten in diesem Jahr rarer gesät als sonst. Oft aber werden territoriale Fragen verhandelt und nicht wenige der Kollektive definieren sich über eine räumliche Praxis. Die niederländische Gruppe ook_ widmet sich beispielsweise in der sehenswerten brutalistischen Brüderkirche in der Nordstadt neuen Formen der Stadtteilarbeit, während das Party Office b2b Fadescha in der Werner-Hilpert-Straße einen queeren Club gestaltet hat. Auch einige große Installationen gibt es und ein Open-Air-Kino mit Bar und Sauna auf der Karlswiese. Nicht selten sind Architekt*innen Teil der Gruppen – wie auch bei Ruangrupa. Zu nennen wären beispielsweise Atelier van Lieshout, der indische Architekt Sourabh Phadke oder der Architecture Uncomfortable Workshop aus Budapest. Mit dabei ist auch das Berliner Zentrum für Kunst und Urbanistik ZK/U, dessen aus einem Vordach ihres Hauptquartiers gezimmertes Citizenship sich noch auf dem performativen Wasserweg nach Kassel befindet.

Neben der Kunst sind es auch bei dieser Documenta wieder die über die Stadt verteilten Ausstellungsorte, die einen Besuch lohnend machen: das Hübner-Industrieareal, die frühe Spannbetonkirche St. Kunigundis im Heimatschutzstil und ein Zwanzigerjahre-Hallenbad, alle in Bettenhausen im Osten der Stadt situiert. Und natürlich der überaus charmante Bootsverleih Ahoi an der Fulda, wo unter anderem Architecture Uncomfortable eine von E.T.A. Hoffmann inspirierte Mischung aus Spielplatz und Baustelle präsentieren. Kein schlechter Ort, um während des Besuchsmarathons ein wenig zu verweilen, falls man sich trotz besagter berechtigter Vorbehalte zu einer Fahrt nach Kassel entschlossen hat.

Mit Dank an Linda Kuhn für Ideen und Kritik.


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Epizentrum der diesjährigen Documenta: Das ruruHaus in einem alten Kaufhaus am nördlichen Rand des Friedrichplatz. Das Gebäude steht als Teil der Treppenstraße unter Denkmalschutz und sah vermutlich schon lange nicht mehr so gut aus, wie mit der aktuellen, vage 50s-artigen Gestaltung (Entwurf: Studio 4oo2, Umsetzung in Kooperation mit Stan Hema) der Großausstellung.

Epizentrum der diesjährigen Documenta: Das ruruHaus in einem alten Kaufhaus am nördlichen Rand des Friedrichplatz. Das Gebäude steht als Teil der Treppenstraße unter Denkmalschutz und sah vermutlich schon lange nicht mehr so gut aus, wie mit der aktuellen, vage 50s-artigen Gestaltung (Entwurf: Studio 4oo2, Umsetzung in Kooperation mit Stan Hema) der Großausstellung.

Schon vor dem offiziellen Start der Ausstellung haben Ruangrupa das Gebäude als Ort des Austauschs etabliert. Hier die Veranstaltung Fussballaballa des Berliner Zentrum für Kunst und Urbanistik im Sommer 2021.

Schon vor dem offiziellen Start der Ausstellung haben Ruangrupa das Gebäude als Ort des Austauschs etabliert. Hier die Veranstaltung Fussballaballa des Berliner Zentrum für Kunst und Urbanistik im Sommer 2021.

Trotz gegenteiliger Bemühungen um eine räumliche Enthierarchisierung im Vorlauf der Ausstellung wieder einer der Hauptorte: Das Fridericianum mit einer Arbeit des rumänischen Künstlers Dan Perjovschi.

Trotz gegenteiliger Bemühungen um eine räumliche Enthierarchisierung im Vorlauf der Ausstellung wieder einer der Hauptorte: Das Fridericianum mit einer Arbeit des rumänischen Künstlers Dan Perjovschi.

Tatsächlich mangelt es hier nicht an Kunst, aber es gibt eben auch – wie hier im Bild zu sehen – einen Kindergarten.

Tatsächlich mangelt es hier nicht an Kunst, aber es gibt eben auch – wie hier im Bild zu sehen – einen Kindergarten.

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