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23.03.2022
Buchtipp: Building a new New World
Amerikanizm in Russian Architecture
Im Grunde sollte man sowieso jedes Buch von Jean-Louis Cohen kennen oder besitzen. Wie kaum ein Zweiter hat sich der französische Architekturhistoriker auf die Geschichte der modernen Architektur im 20. Jahrhundert spezialisiert, wobei ihn insbesondere die Wechselwirkungen zwischen den Ländern und Kontinenten interessieren.
Mit „Le Corbusier and the Mystique of the USSR“ (1992) untersuchte er Le Corbusiers Faszination für die Sowjetunion, mit „Interférences/Interferenzen“ (2013) die architektonischen Wechselströmungen zwischen Deutschland und Frankreich. In der von ihm kuratierten Ausstellung „Scenes of the World to Come: European Architecture and the American Challenge“, die 1995 im Centre Canadien d’Architecture (CCA) in Montreal stattfand, hatte sich Cohen auch ein erstes Mal mit dem Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika beschäftigt, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Weltmacht etablierten und immer stärker als Vorbild für eine progressive, moderne Industrienation angesehen wurden.
Mit seinem Buch Building a new New World. Amerikanizm in Russian Architecture setzt Cohen diese Reihe sehr eindrucksvoll fort. Er beschäftigt sich dieses Mal mit dem russischen Blick auf das moderne Amerika, und wie diese – oft verklärte – Ansicht nicht nur Städtebau und Architektur beeinflusst, sondern auch Literatur, Film, Theater und Wirtschaft. Auch dieses Projekt war zunächst eine Ausstellung im CCA, die jedoch Anfang 2020 weitgehend der Pandemie zum Opfer fiel. Zum Glück gibt es die ausführliche Publikation.
Auf 450 Seiten entwickelt Cohen eine chronologische Erzählung, die mit der Weltausstellung in Chicago 1893 beginnt, ihren Höhepunkt in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen findet und sich dann bis in die 1980er Jahre erstreckt, als der sowjetische Riese zu bröckeln beginnt. Cohens Stil ist der einer Montage. Er reiht verschiedene Erzählungen aneinander – mal kürzer, mal ausführlicher – ohne diese jeweils zwingend argumentativ zu verknüpfen oder in ihrer Bedeutung zu gewichten. Und auch von den Bildern und Zeichnungen über die Plakate bis hin zu den Illustrationen, die die Erzählungen üppig begleiten, bietet jeder Inhalt Stoff für eigene Geschichten.
In sechs lockeren Kapiteln breitet Cohen den Blick aus dem zaristischen Russland auf das „junge“ Amerika aus, die Faszination für Taylorismus und Fordismus, die Wirkung von Hugh Ferriss’ Skyscraper-Zeichnungen New Yorks auf die Sieben Schwestern-Wolkenkratzer Moskaus. Er zeigt, wie die UdSSR unter Stalin auf das amerikanische Vorbild schaute und wie im Zweiten Weltkrieg aus Verbündeten die härtesten Rivalen wurden. Auch geht es darum, wie sich unter diesen Vorzeichen der Blick nach Westen unter Chruschtschow veränderte, bis sich schließlich der bleierne Mantel des Kalten Krieges auf das Verhältnis der beiden Supermächte des 20. Jahrhunderts legte.
Obwohl der Blick in dieser breit angelegten Kulturgeschichte zweier Nationen stets das gesamte Panorama umfasst, gelingt es Cohen mühelos, Architektur und Städtebau stets im Mittelpunkt seiner Geschichten zu halten. Der Lesefluss ist ein Rausch – auch, weil der Autor immer wieder hingebungsvoll einzelne Protagonisten oder Teilaspekte genauer beleuchtet. Darunter finden sich die USA-Erlebnisse von Maxim Gorki, Leo Trotzki oder Nikolai Bucharin (und wie diese in Russland publiziert und rezipiert werden), die Liebe der Russen zum Ford-Traktor (den sie zärtlich fordzonishko nennen), welcher Amerika-Bezug in El Lissitzkys Wolkenbügel liegt oder aber die Hunderten von Fabriken, die Albert Kahn in den 1930er Jahren für die UdSSR plante. Einen besonders intensiven Fokus legt Cohen dann in den letzten beiden Kapitel auf den internationalen Wettbewerb für den Palast der Sowjets sowie auf die letzte große Messe, der American National Exhibition, mit der sich die USA 1959 in Moskau präsentierte.
Aus all diesen Fragmenten und Geschichten webt Cohen kunstvoll einen dichten Teppich, der eine Architekturgeschichte jenseits von Klischees zeigt. Beziehungsweise zeigt er auf, wie eben diese Klischees als Amerikanizm – als Traumbilder einer fernen New World – konkrete Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und das Baugeschehen in der UdSSR hatten.
In Zeiten des Krieges ist dieses Buch umso wichtiger, weil es die vielfältigen Verflechtungen zeigt, die Wechselwirkungen und gegenseitigen (manchmal unfreiwilligen) Einflüssen, die unverzichtbare Grundlage für die Menschheitsgeschichte im 20. Jahrhundert sind. Das trifft selbst auf zwei scheinbar so gegensätzliche Nationen wie die USA und die UdSSR zu, die sich selbst als Supermänner wähnten, wie es der polnische Illustrator Roman Cieslewicz 1969 so treffend auf dem Cover der französischen Kunstzeitschrift Opus International zeigte.
Text: Florian Heilmeyer
Building a new New World. Amerikanizm in Russian Architecture
Jean-Louis Cohen
Englisch
450 Seiten
Yale University Press, London 2020
ISBN 978-0300248159
36 Euro
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Iwan Leonidow: Theoretisches Projekt „The City of the Sun“, Perspektive mit der St. Basilius-Kathedrale, Moskau, 1943-59
Roman Cieślewicz: „The Two Superman“, Titelbild von Opus International Nr. 4, Dezember 1967
Michaïl A. Minkus und Vladimir G. Gelfreikh: „View of Construction Site“, Titelbild von „USSR in Construction“, November 1949.
Arkadi G. Mordwinow und Vyacheslav K. Oltarzhevsky: Perspektive des Hotel Ukraina, Moskau, 1948–54
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