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16.12.2021
Buchtipp: Panoptikum eines Kontinents
Antarctic Resolution
Achtung: Dies ist keine Buchrezension, dies ist eine tiefe, in Textform gegossene Verbeugung. Was die Architektin Giulia Foscari zusammen mit der von ihr gegründeten gemeinnützigen Institution Unless als Herausgeberin von Antarctic Resolution zusammengetragen hat, ist das Panoptikum eines ganzen Kontinents. Schlichtweg spektakulär kommt die von Foscari mit dem Team des Lars Müller Verlags verantwortete visuelle Gestaltung daher, die mit aberhunderten von informativen Karten, Plänen, Zeichnungen, historischen Fotografien und künstlerischen Arbeiten aufwartet. Wer bisher meinte, die Antarktis hätte mit dem eigenen Leben nichts zu tun, wird feststellen müssen, dass sich hier (fast) alle entscheidenden Fragestellungen des 21. Jahrhunderts wie unter einem Brennglas verdichten.
Wer sich dagegen schon eingehender mit der Antarktis beschäftigt hat, dürfte die Robert Headland-Klassiker gelesen haben. Headland liefert im vorliegenden Buch einem Überblick zur heroischen Ära – der Erkundung der Antarktis und dem Wettrennen zum Pol der Briten Ernest Shackelton und Robert F. Scott sowie des Norwegers Roald Amundsen (der vor fast genau 110 Jahren, am 14. Dezember 1911 Geschichte schreibt). Begleitet wird der Essay von Karten, in der die präzisen Routen aller Expeditionen, die zur Entdeckung der Antarktis beitrugen, nachvollzogen werden können. Das reicht von James Cook, der 1772–75 als „Erster“ den Südpolarkreis überquerte über Thaddeus von Bellingshausen, der am 27. Januar 1820 als „Erster“ den Kontinent gesehen hat und natürlich die drei großen Entdecker (sowie den gerne vergessenen Japaner Nobu Shirabase) bis zur ersten Landquerung 1958.
Am Ende dieser epischen Reise sind wir auf Seite 39 von insgesamt 992 Seiten angekommen. Was folgt ist eine allumfassende Analyse der Antarktis. Es geht um das Konzept der Terra In-cognita, um Territorialität, Geopolitik und Gouvernementalität (wie regiert man einen Kontinent, auf dem keine Menschen leben?), Fragen der Ressourcenverteilung und einem Kontinent als Global Common, das „ewige Eis“ als extremes (temporäres) Habitat für verschiedene Lebensformen, das Anthropozän und die menschengemachte Klimaerwärmung, die Nutzung als Forschungsstandort für verschiedene Wissenschaftsbereiche einschließlich der Erkundung des Kosmos und der bemannten Raumfahrt. Das nur als kleiner Ausschnitt, was den Lesenden in den vielen, meist kurzgehaltenen Essays erwartet.
Der Schwerpunkt liegt auf der Architektur. Fast nebenbei liefert die Publikation ein vollständiges Kompendium aller jemals auf dem Kontinent errichteten Bauten mitsamt Fotografien (soweit existent) und detaillierter Planzeichnungen. Das reicht von der 1899 bei der Expedition von Carsten Borchgrevinks gezimmerten (Ur-)Hütte am Kap Adare und den kurz darauf entstandenen Infrastrukturen für den kommerziellen Walfang über die vielen, im Kalten Krieg errichteten Forschungsstationen wie der Amundsen-Scott South Pole Station mit der geodätischen Kuppel von Bucky Fuller bis hin zur indischen Bharati Station von bof Architekten, der britischen Station Halley VI von Hugh Broughton, die mit ihren hydraulischen Stahlbeinen einer Archigram-Vision entsprungen scheint, sowie der unter US-amerikanischer Flagge laufenden McMurdo Station (ab 1956), welche heute mit 105 Gebäuden die größte menschliche Siedlung auf dem Kontinent darstellt. Den Abschluss bilden derzeit in Planung befindliche Strukturen der Amerikaner, Chinesen und Russen.
Dazu kommen duzende erläuternde Texte, wie den zur Evolution der thermischen Hülle (von Federica Sofia Zambeletti), sowie auf den ersten Blick abseitige Themen wie die Rolle des Fensters (von Hugh Broughton) – für die als Wärmedämmung mitunter von der NASA entwickeltes Nano-Gel zum Einsatz kommt. Ein Essay von Susan Barr widmet sich dem von Amundsen aufgestellten Zelt, welches Scott als Zweiter im Rennen nur wenige Wochen später auffand. Seither fehlt von der Kleinarchitektur jede Spur. Eine norwegische Expedition, das Zelt für die Olympischen Winterspiele 1994 wiederzufinden, scheiterte. Obwohl verschollen, ist es unter dem Antarctic Treaty System of Historic Sites and Monuments geschützt. Dieser und die anderen Essays im Buch reproduzieren aber nie die Legendenbildungen der großen Heroen, sondern beleuchten die ideologische Vereinnahmung von Geschichten und Relikten. Die über 500 Seiten umfassende, in mehrere Kapitel gegliederte Auseinandersetzung mit Architektur allein hätte die Publikation mehr als gerechtfertigt.
„Must soon turn north.“ – Wer versucht, in der Nähe des Südpols „in Begriffen wie Nord und Süd, Mittag und Mitternacht oder gar heute und morgen zu denken, verstrickt sich hoffnungslos in sinnlose, widersprüchliche Phrasen“, schreiben die Teilnehmer der Novo to Inaccessibility Antarctic Expedition 2007. Die Zeit wird knapp, der Autor dieser Zeilen ist betrübt, so viele interessante Einzelheiten unangesprochen lassen zu müssen. Erwähnt werden sollen aber noch die künstlerischen Beiträge mit Fotografien der ikonoklastischen Landschaften des Südkontinents von Paolo Pellegrin, Herbert Ponting, Eliot Porter, Joan Myers und Jean de Pomereu. William Kentridge hat zu seiner Arbeit einen eigenen Essay verfasst.
Fazit: Dieses Buch ist ein ganzes Universum. In Aufmachung und Gestaltung setzt Antarctic Resolution neue Maßstäbe. Es ist das schönste Buch, an das sich der Rezensent beim Verfassen dieser schwärmerischen Zeilen erinnern kann. Die weitgefächerte Themenpalette und die informativen Essays werden ihn noch Jahre begleiten.
Text: Alexander Stumm
Antarctic Resolution
Giulia Foscari / Unless (Hg.)
English
992 Seiten
Lars Müller Publishers, Zürich 2021
ISBN: 978-3-03778-640-6
65 Euro
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Die Amundsen-Scott South Pole Station mit der geodätischen Kuppel von Richard Buckminster Fuller von 1974 (2008 abgebaut).
Der „ Urban Sprawl“ der McMurdo Station, der größten Siedlung des Kontinents. Im Vordergrund ein Brennstofflager.
Buchcover Antarctic Resolution
Anne Noble: Piss Pole Nr. 1. Gelbe Flaggen kennzeichen in der Antarktis zugelassene Orte für das Pissen im Freien.
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