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30.06.2021
Buchtipp: Blick in die Fassaden
The Ecologies of the Building Envelope
Sie repräsentiert Architektur zweifelsohne am prominentesten: die Fassade. Wie aber wird sie rezipiert? Im architekturhistorischen und -theoretischen Fokus standen seit dem 19. Jahrhundert die Komposition, also Proportion und Zusammenspiel der einzelnen Elemente, und die Semiotik, die Analyse der Bedeutung von Zeichenträgern, als Untersuchungsinstrumente im Vordergrund. Mit der Krise der Fassade seit der Moderne gerieten auch ihre theoretischen Grundpfeiler zunehmend unter Druck. Die Publikation The Ecologies of the Building Envelope. A Material History and Theory of Architectural Surfaces erweitert den analytischen Werkzeugkasten nun umfassend.
Geschrieben haben sie Alejandro Zaera-Polo – Architekt und Architekturtheoretiker, der 1993 das Architekturbüro FOA mitbegründete, seit dessen Auflösung 2011 unter AZPML firmiert und unter anderem Dekan der Princeton School of Architecture und des Berlage Institute in Rotterdam war – und Jeffrey S. Anderson, der im Graduate Architecture and Urban Design Program am Pratt Institute lehrt und das Design Lab bei Mancini Duffy in New York leitet. Die beiden Autoren stellen den Ansatz der Stilanalyse, aber auch den der Tektonik – wie ihn zuletzt noch Kenneth Frampton Mitte der 1990er Jahre vertreten hatte – und überhaupt jede rein phänomenologische Herangehensweise an das Thema in Zeiten von Klima- und Umweltkrise sowie einer zunehmenden Posthuman-Sensibilisierung in Frage. Im Sinne des Material turn, einer zunnehmenden Gewichtung des Materials, stellen sie die Baustoffe und deren weitreichende Verflechtungen mit der Umwelt ins Zentrum der Exegese. Es geht für die Autoren also darum, die historischen Entwicklungslinien von Techniken des Gebäudemanagements, materiellen Leistungsfähigkeiten, Baukomponenten sowie Aufbau- und Montageformen nachzuzeichnen, welche die zeitgenössische Gebäudehülle definieren. Sie liefern damit nicht weniger als ein umfassendes Kompendium für eine neue Lesart des architektonischen Außenbaus.
Die Publikation gliedert sich in vier Hauptabschnitte, die 23 Kapitel stellen gezielte materiell-historische Tiefenbohrungen mit jeweils eigenem Fokus dar. Im ersten Abschnitt Environmental Performances: The Teleology of the Envelope lesen die einzelnen Textbeiträge zur Wasserdichtheit, Luftdichtheit oder Wärmeisolierung von Bauten die Architekturgeschichte der Moderne gegen den Strich. Mit der mechanischen Ventilation beispielsweise entsteht die Möglichkeit, das Klima im Gebäudeinneren vollkommen zu kontrollieren, was ein Neudenken der Gebäudehülle mit sich zog. Hatten deren Bestandteile – sprich Dach und Außenwände – traditionellerweise unterschiedliche Funktionen inne – ersteres sollte vor allem wasserdicht sein, letztere schützen und gleichzeitig die Luftzirkulation fördern –, ändert sich dies im 20. Jahrhundert grundlegend. Verschiedene, auf architektonischer Ebene ablaufende Anpassungen der zu umschließenden und dann zu regulierenden Umwelt führten zu dem, was die Autoren als „Envelope Assemblage“ bezeichnen.
Der Abschnitt Assemblages: The Speciation of the Envelope dekliniert nach einer Reihe von auf den ersten Blick unmerklichen Entwicklungen der Gebäudehülle eine Kritik der neun vorherrschenden Kategorien durch: Vorhangfassaden, Doppelfassaden, Vollverglasung, Betonfertigteile, ornamentale Screens, vorgespannte Verkleidungen, Medienfassaden, begrünte Fassaden und kinetische Assemblagen. Jedes einzelne Kapitel ist ein Ritt durch die Architekturgeschichte, stellvertretend sei hier nur das zu den begrünten Fassaden herausgenommen. Es startet mit dem korinthischen Kapitell, das ja ein von Akanthus überwuchertes dorisches ist, macht kurz Zwischenhalt bei den Romantikern und den vegetabilen Ornamenten von Adler & Sullivan im Guaranty Building in Buffalo, New York, widmet sich dem Unterschied des „conceptual green“ bei Le Corbusier und des „technical green“ eines Stanley Hart White, schwenkt dann über zu den Umweltbewegungen der 1970er Jahre und reichbepflanzten brutalistischen Bauten wie dem Barbican Centre in London von Chamberlin, Powell and Bon oder in Ivry-sur-Seine bei Paris von Jean Renaudie und Renée Gailhoustet, um schließlich im 21. Jahrhundert anzukommen, wo die Ambivalenz zwischen Kommodifizierung – Stichwort Greenwashing – und neuer Artenvielfalt in der Stadt diskutiert wird.
Der ungewöhnliche Fokus, aber auch der klare Schreibstil machen die reichhaltigen Texte der 464 Seiten schweren Publikation allesamt lesenswert. Allein für die aus unerfindlichen Gründen oftmals stark verpixelte Darstellung der vielen Farbabbildungen sind Abzüge in der B-Note zu verzeichnen.
Text: Alexander Stumm
The Ecologies of the Building Envelope. A Material History and Theory of Architectural Surfaces
Alejandro Zaera-Polo, Jeffrey Anderson
Englisch
464 Seiten
Actar Publishers, New York, Barcelona, 2021
ISBN 978-1948765183
49 Euro
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