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11.08.2021

Buchtipp: Bildungsmoderne entzaubern

Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt


Die Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität ist in den letzten Jahren vom Stadtteil Bockenheim ins Westend gezogen. An diesem Standortwechsel von einem Campus mit brutalistischen Großstrukturen zu einer Anlage mit repräsentativen Neubauten der Berliner Schule rund um die einstige  Zentralverwaltung der IG Farben von Hans Poelzig lässt sich auch ein Paradigmenwechsel in der universitären Bildung ablesen – von einer demokratischen Massenuniversität Richtung Exzellenzcluster. Die österreichischen Künstler*innen Sabine Bitter und Helmut Weber haben den Umzug der Universität seit 2014 begleitet. In der nun von ihnen herausgegebenen Publikation Bildungsmoderne entzaubern. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt dokumentieren sie in Fotografie und Text diesen architektonisch-städtebaulichen Transformationsprozess. Daran knüpfen sie die Frage, welche Bedeutungsverschiebung von Bildung in unserer Gesellschaft an den einst gebauten und heute wieder rückgebauten Strukturen einer radikalen Moderne in Bockenheim sichtbar wird.

„Bauformen sind nicht unmittelbar bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen zuzuordnen“, schreibt der Stadtsoziologe Klaus Ronneberger in seinem einleitenden Text und ergänzt: „Sie haben keinen Sinn an sich.“ Dass sie dennoch ideologisch aufgeladen sind, beschreibt Ronneberger anhand der öffentlichen Wahrnehmung, mit der Planung und Bau des heute in Auflösung begriffenen Campus Bockenheim einst begleitet wurde. Nur gegen arge Widerstände konnte beispielsweise der von Max Horkheimer angeworbene Baudirektor der Universität, Ferdinand Kramer, in der Nachkriegszeit die ursprüngliche bürgerliche Stiftungsuniversität mit ihrem berühmten Institut für Sozialforschung zu einer demokratischen Massenuniversität umgestalten. Dessen Leitbild einer „fordistischen Bildungsfabrik“ wurde 1972 durch die Fertigstellung des 116 Meter hohen AfE-Turms (Abteilung für Erziehungswissenschaften) mit seiner nackten Stahlbetonkonstruktion vervollständigt.

Die medial inszenierte Sprengung des AfE-Turms im Jahr 2014 deutet Ruth Norak in ihrem bildtheoretischen Essay als „definitives und unaufhaltsames Ende“ eines ganzen Bildungsparadigmas: „Die Sprengung kann metaphorisch für die schwindende Relevanz des gesellschaftspolitischen Schwerpunkts der Universität gesehen werden, stehen doch im Programm der Exzellenzinitiative von 2005 eine marktwirtschaftliche Orientierung und Wettbewerbsfähigkeit“. Auch Bitter zeigt in ihrem Fotoessay den Turm, dessen Höhe sie gerade noch auf ihrer nüchternen Aufnahme erfassen kann. Diesem Bild lagert sie eine geradezu lakonische Darstellung des mit Schutt und Autoreifen gefüllten Grundstücks nach der Sprengung vor. In ihren Fotografien, die sich kapitelweise durch das Heft ziehen, wirkt die zumeist menschenleere Architektur wie ein Sensor der bildungspolitischen Veränderung.

Bildungsmoderne entzaubern ist das erste einer Reihe geplanter Hefte von Bitter und Weber. Außerdem erschienen ist bereits ein englischer Band zur Simon Fraser University in Vancouver, weitere zur University of Lethbridge und zur Universität Moša Pijade in Zagreb sind geplant. In den Publikationen blicken Bitter und Weber zurück in die 1960er und 70er Jahre, als brutalistische Bauten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Veränderungen in der Beziehung von Bildung und Gesellschaft auszudrücken und vielleicht sogar zu formen wussten. Sie diskutieren aber auch weniger beachtete Facetten dieser Architekturen – etwa den Aspekt des Kolonialismus in Vancouver, wo die Simon Fraser University auf dem einstigen Grund einer indigenen Gemeinschaft errichtet wurde. Oder auf den Paternalismus in Frankfurt, wo die beteiligten Planer*innen meinten, über die Lernbedingungen von 15.000 Student*innen urteilen zu können.

Text: Sophie Jung


Bildungsmoderne entzaubern. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

Sabine Bitter und Helmut Weber (Hg.)

172 Seiten
adocs Verlag & Produktion, Hamburg/Edition Camera Austria, Graz 2021
ISBN 978-3-943253-41-2

25 Euro


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Cover der ersten Publikation der Reihe „Bildungsmoderne entzaubern“ von Sabine Bitter und Helmut Weber

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Sozialzentrum/Alte Mensa der Johann Wolfgang Goethe-Universität mit Passage zur Bockenheimer Straße

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U-Bahn-Station Bockenheimer Straße mit Fotos von Barbara Klemm, Zustand 2019

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Campus Bockenheim, Schautafel „Kramer baut“, Zustand 2016

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