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10.06.2021

Belgischer Pavillon 2021

Kurator Dirk Somers im Gespräch


Die Ausstellung Composite Presence im Belgischen Pavillon der Architekturbiennale in Venedig 2021 versteht Stadt als hybrides und vielfältiges Gebilde, aber in gewisser Weise konsistent und produktiv in ihren Unterschieden. Die szenografische Idee folgt einer fiktiven Stadtlandschaft von 50 realisierten und entworfenen Architekturen in Flandern der letzten Jahre, die dank großer Modelle im Maßstab 1:15 begehbar wird. BauNetz sprach mit Kurator Dirk Somers (Bovenbouw Architectuur) über belgische Besonderheiten: Baupolitik, Umbaukultur und die absurde Poesie des Alltäglichen.

Die Ausstellung hat mehrere historische Bezugspunkte, so das Capriccio von Canaletto oder die analoge Stadt von Aldo Rossi. Eine zentrale Referenz Ihres Konzepts ist die Collage City von Colin Rowe und Fred Koetter. Welche Aspekte des Konzepts sind für uns heute noch relevant, welche überholt?
Der Ausstellungstitel bezieht sich auf die berühmte Zeichnung von Hans Kollhoff und David Griffith, die als Frontispiz für die Collage City von 1978 diente. Für Rowe ist die Collage der Gegenentwurf zur modernistischen Tabula rasa eines Le Corbusier und eine Kritik an der modernistischen Planungstradition. Seine Kompositionen sind aber nostalgisch, die Collage diente gewissermaßen nur als Alibi, um barocke und Beaux-Arts-Gebilde mit großem Gestus zu gestalten. In Belgien heute ist Architektur mitunter hässlich, aber immer wieder trifft man auf eine interessante, hochintensive Mischung aus verschiedenen Stilen, Typologien und Maßstäben. Die Collage ist omnipräsent. Aldo Rossi ist ein weiterer Bezugspunkt – seine Strada Novissima entstand vor 40 Jahren.
 
Belgien praktiziert seit einigen Jahren eine besondere Kultur der Baupolitik, von der Deutschland viel lernen kann. Wie funktionieren diese Strukturen?
Es gibt ein reiches institutionelles Feld für Architektur in Belgien. Das beginnt beim berühmten Vlaams Bouwmeester, der eine Art Soft Power ist (siehe Baunetzwoche #557). Darüber hinaus gibt es vielerorts eigene Stadtarchitekten, zum Beispiel in Brüssel, Antwerpen und Gent, aber auch in kleinen ehemaligen Industrieorten wie Charleroi. Zuerst nur Berater, haben sie inzwischen ein formelles Mandat und arbeiten als Vermittler. Auf verschiedenen Verwaltungsebenen sowie auf interkommunaler Ebene gibt es Komitees für ästhetische Bauqualität, Workshops und „Qualitätskammern“, die in einem frühen Entwicklungsstadium aktiv werden. Dieser Middle Ground ist ein wirksames Instrument für die Regulierung der Marktinteressen und stellt gute Gestaltung sicher. Außerdem wird die Expertise der Universitäten deutlich stärker eingebunden. Wichtig: Die Positionen wechseln regelmäßig, das setzt eine tolle Dynamik frei. All das formiert sich zu dem, was ich Verhandlungslandschaft nenne. In Deutschland ist alles sehr formalisiert und professionalisiert, jeder sitzt auf seinem Posten. Vielleicht ist unsere Einstellung – auch Amateur sein zu dürfen – eine gute Ausgangslage für Verhandlungen und den offenen Dialog.
 
Hat es in Belgien gewissermaßen Tradition, Architektur und Poesie zu verbinden?  
Ja, und zwar eine für Belgien typische, verschrobene Form von Poesie. Sie ergibt sich aus ungewollten, absurden Situationen im städtischen Raum, wie beispielsweise verwinkelte Formen von Grundstücken oder eigensinnigen Versprüngen in Gebäuden, die sich auf dem ersten Blick jeglicher Logik entziehen, aber einem über die Jahre gewachsenen „informellen Urbanismus“ geschuldet sind. Man trifft darauf insbesondere in den peri-urbanen Agglomerationen, die nicht wirklich durchgeplant sind. Ein Architekt, der in Belgien arbeitet, ist hier zugleich ein Stadtplaner und muss unkonventionelle Antworten auf besondere Situationen finden. In Belgien gibt es viel Reibung und Unstimmigkeiten – man spricht ja schon von einem „Failed State“… und die Ugly Belgian Houses sind legendär. Dieser Zustand hat für mich definitiv etwas Poetisches. Die belgische Kunst ist schon lange an der Absurdität des Alltäglichen interessiert, wenn ich zum Beispiel an Marcel Broodthaers oder René Heyvaert denke.
 
Der Ansatz des Um- und Weiterbauens von bestehendem Stadtgefüge ist in Belgien sehr präsent. Können Sie ein paar der ausgestellten Projekte nennen, die Sie in dieser Hinsicht besonders überzeugt haben?
In Belgien stellen adaptive Wiederverwendungen inzwischen mehr als 50 Prozent der Architekturprojekte dar. Es gibt verschiedene Ansätze, die ihre Berechtigung haben. In dem noch nicht fertiggestellten Olijftakstraat erhalten FELT architecture & design die historischen Fassaden dreier Stadthäuser, nur mit dem Innenausbau wird zeitgenössischen Ansprüchen kreativ Genüge getan. Kanaal in Wijnegem von Stéphane Beel nutzt historische Silos für Apartments um. Es ist eine ikonische Architektur, die im industriell geprägten Randgebiet von Antwerpen auch Signalwirkung hat. Ein großes Problem ist aber vielerorts die Tendenz, dass interessante Architektur für die Energieeffizienz hinter Wärmedämmung verschwindet. Ich hoffe, dass wir vorhandene Qualitäten nicht über den guten Vorsätzen verlieren. Eine überzeugende Lösung bieten da Vermeiren–De Coster Architecten mit dem DC-V house and office in Antwerpen. Sie umhüllen das Gebäude zwar mit einem WDVS, schaffen aber interessante Texturen und Muster.
 
Die Modelle im Maßstab 1:15 sind ungewöhnlich. Wieso haben Sie sich für diese Größe und – im Vergleich zu vielen anderen Pavillons – eine klassische, nicht digitale Inszenierung entschieden?
Die Größe war für uns entscheidend, da wir an eine Wirkung heranreichen wollten, sich tatsächlich in einer Straße zu befinden. In der Ausarbeitung haben wir auf die Balance aus Detail und Abstraktion geachtet. Es sollte nicht dystopisch wirken, sondern eine gewisse Attraktivität ausstrahlen, ohne ins Kitschige abzugleiten. Die Materialität besitzt eine reiche Textur. Inspiration lieferten unter anderem die Architekturentwürfe von Thomas Schütte. Kurze Randnotiz: Ganz genau genommen ist der Maßstab 7:100, der noch besser gepasst hat.

Teil der Ausstellung sind außerdem 45 Beiträge von Kolleg*innen aus der ganzen Welt zum Thema des architektonischen Zusammenlebens in der Stadt – ein zeitgenössisches Capriccio. Wie kam es dazu?
Die fiktive oder konzeptionelle Herangehensweise von Architekt*innen in der Zeichnung sagt viel über das tatsächliche Verständnis von Stadt aus und öffnet neue Interpretationsspielräume. Heute ist man entweder Architekt, Stadtplaner oder Aktivist. In meinem Verständnis sollte unser Tun jedoch von einer Vorstellung der Stadt als Ganzes geleitet werden – Composite Presence.

Die Fragen stellten Laura M. Lampe und Alexander Stumm.


Zum Thema:

Einen Überblick über die besondere Architekturlandschaft in Belgien bietet auch  dieses Themenpaket von BauNetz.


Kommentare:
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