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30.07.2019

Verfechter der Architecture Située

Zum 100. Geburtstag von André Ravéreau


Von Sophie Jung

Nur kurz nach seinem Architekturdiplom 1953 an der École des Beaux Arts in Rouen erhielt André Ravéreau den Auftrag, zwei erdbebenzerstörte Dörfer auf der griechischen Insel Kefalonia wiederaufzubauen. Für eine Reise auf die Insel stellte der Auftraggeber, das französische Außenministerium, kein Geld zur Verfügung. Also entwarf der begeisterte Schüler des Betonkonstrukteurs Auguste Perret einige Typenhäuser für Kefalonia von seinem Pariser Schreibtisch aus. „Architektur betrachtete man damals als universell”, begründete Ravéreau später sein Vorgehen – und sollte den Gedanken einer Allgemeingültigkeit von Architektur doch sehr schnell wieder verwerfen.

Denn André Ravéreau war über viele Dekaden hinweg ein großer Verfechter einer regionalen Moderne. Während der französische Staat für die Peripherien seiner Städte ganze Siedlungen am Reißbrett entwerfen ließ, proklamierte Ravéreau dafür, den Kontext in die Architektur zurückzuholen. „Studiert die Grundbedürfnisse der Menschen, das Klima, das Material!“ und: „Hört auf zu technifizieren!“ – das sind die Aussprüche seines Buches „Le M’Zab – une leçon d’architecture“ von 1983, das in Frankreich mittlerweile ein Standardwerk ist. Der Architekt, Stadtplaner, Träger des Aga Khan Awards und in Frankreich viel beachtete Publizist wäre am 29. Juli 100 Jahre alt geworden.
 
In der historischen Phase Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich die afrikanischen Kolonien von ihren europäischen Mächten lösten, strebte Ravéreau auch in der Architektur eine Loslösung von der Überlegenheit des Planers an. Er forderte ein Bauen im kleinen Maßstab, eine Wertschätzung traditioneller Bauweisen und ihres kulturellen Kontextes sowie ihre Vereinbarkeit mit dem Fortschritt durch die Moderne. Von 1960 bis 1962, also in der Endphase des Algerienkrieges, kam Ravéreau ins algerische M’Zab-Tal. Der französische Staat hatte ihn damit beauftragt, den Masterplan von Gerald Hanning für die Stadt Ghardaia vor Ort auszuarbeiten. Ravereau aber unterwanderte Hannings Pläne, der nach klassischem europäischem Verständnis die öffentlichen Einrichtungen wie ein Krankenhaus oder ein Gerichtsgebäude repräsentativ gesetzt hatte. Stattdessen realisierte er Neubauten in niedrigerer Höhe. Damit öffnete er historische Sichtbezüge zu Minaretten oder der alten Festung und stellte das traditionelle Stadtgefüge wieder in den Vordergrund. „Vielleicht war es ästhetische Willkür“, sagte er rückblickend, „aber wenn es einen Kontext gibt, muss man sich gar nicht die Mühe machen, ihn zu missachten“.
 
Nach der Unabhängigkeit des Landes 1962 berief ihn das algerische Kulturministerium zum Chefarchitekten von Ghardaia. Ravéreau setzte sich für den Denkmalschutz in der Stadt ein, in deren traditioneller Architektur er die „Strenge von Auguste Perret und die exaltierten Formen von Le Corbusier“ wiederfand. In seiner Position veranlasste er auch die Aufnahme des M’Zab-Tals in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. 
 
Viele Jahre lebte er in Algerien, gründete dort sein eigenes Büro – heute bekannt als Atelier Ghardaia –, mit dem er für die Region Gebäude entwarf. Zugleich engagierte er sich für die Lehre und die weitere Erforschung der nordafrikanischen Architektur. Aus dieser Zeit stammt auch sein Postamt in Ghardaia, für dessen abgetreppten Bau er fast vergessene lokale Bautechniken erforschte und anwendete. 1975 endgültig nach Frankreich zurückgekehrt, arbeitete Ravéreau sein Konzept einer Architecture Située, einer aus dem Ort entwachsenen Bauweise, publizistisch und architektonisch weiter aus. Sein medizinisches Zentrum in Mopti ist wohl das bekannteste Beispiel seiner Architekturauffassung. Die von Wegen durchzogende, schattige Anlage mit flachen hintereinander gereihten Versorgungsbauten wurde 1980 mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet.

Ravéreaus Lebenswerk erhielt 1983 mit der Médaille d’Argent de l’Urbanisme von der französischen Akademie für Architektur eine Anerkennung. 2012 – damals war er schon im hohen Alter – würdigte schließlich auch der algerische Staat mit der Médaille du Mérite seinen langjährigen Einsatz für das architektonische Erbe des Landes. André Ravéreau verstarb am 12. Oktober 2017 im südfranzösischen Aubenas.

Abbildungen der Fotografin Manuelle Roche vom architektonischen Werk André Ravéreaus werden mit freundlicher Genehmigung der Association ALADAR veröffentlicht.


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Andre Ravéreau im hohen Alter in seinem Haus in Griechenland, 2016.

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Sein medizinisches Zentrum in Mopti, Mali, gewann 1980 den Aga Khan Award.

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Das französische Lycee in Nouakchott (1982-86), Mauretanien, zeigt Ravéreaus Vorliebe für Auguste Perret und Le Corbusier.

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Für seinen Neubau des Hotel des postes in Ghardaia (1966/67) erforschte und entdeckte Ravéreau lokale Bautechniken.

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