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04.12.2018
Ein Tragwerk wie ein Büstenhalter
L. Benjamín Romano über den Torre Reforma in Mexiko Stadt
Anfang November wurde der Preisträger des Hochhauspreises 2018 bekannt gegeben. L. Benjamín Romano erhielt ihn für den Büroturm Torre Reforma in Mexiko Stadt. Unser Autor Enrico Santifaller traf den Architekten in Frankfurt am Main und sprach mit ihm über die verschobene alte Villa, das Konstruktionsprinzip von Büstenhaltern, und wie man ein preiswertes Hochhaus entwirft.
Interview: Enrico Santifaller
Herr Romano, bei der Pressekonferenz zur Verleihung des Internationalen Hochhauspreises 2018 sagten Sie, dass Sie von deutscher Architektur sehr beeinflusst worden sind. Inwiefern?
L. Benjamín Romano: Die deutsche Architektur hat mich auf zwei verschiedene Arten beeindruckt: Einmal über Mathias Goeritz, ein deutscher Kunsthistoriker, Künstler und Architekt, der 1941 vor den Nazis nach Spanien floh und schließlich 1949 Professor in Mexiko, in Guadalajara, wurde. Goeritz, ein außerordentlich inspirierender und kenntnisreicher Mann, der später auch mit Luis Barragán und Ricardo Legorreta zusammenarbeitete, beeinflusste eine ganze Generation mexikanischer Künstler und Architekten. Ich hatte das Glück, Goeritz kennenzulernen und öfter zu treffen. Er erzählte viel vom Bauhaus, von Walter Gropius und Mies van der Rohe, er beeinflusste mich in meiner Haltung als Architekt, und er regte mich an, mich mit mexikanischen Traditionen auseinanderzusetzen.
Und die zweite „Art“?
Nachdem mein ehemaliger Professor und Freund Francisco Serrano die mexikanische Botschaft in Berlin planen durfte, reisten wir zusammen mit seiner Partnerin Susannah Garcia viele Male nach Europa, um uns die neuesten Trends in der Architektur anzuschauen. Wir haben sehr viel deutsche Architektur gesehen, weil wir immer in Frankfurt landen. Die Architektur in Deutschland überzeugt mich weniger wegen ihres Designs, als vielmehr wegen ihrer technischen Lösungen und Details.
Seltsam, die deutschen Architekten klagen stets über die ganzen Vorschriften und Normen.
Aber dadurch werden sie gezwungen, sich mit der Sache auseinanderzusetzen. Jedes Fenster sitzt perfekt, die Anschlüsse stimmen. Es gibt doch ein Gesetz, das habe ich gehört, das vorschreibt, die Fensterbretter außen mit Abtropfkanten zu versehen. Dadurch bilden sich keine Schlieren mit der Zeit, die Fassaden altern besser – ganz im Gegensatz zu Mexiko. Das ist nur ein kleines Beispiel. Ich habe auf meinem Handy Hunderte von Bildern mit solchen, mich wirklich beeindruckenden technischen Lösungen. In dieser Hinsicht ist die deutsche Architektur neben der japanischen Weltspitze.
Kann es sein, dass die hängenden Gärten im Frankfurter Commerzbank-Turm Sie ebenfalls beeindruckt haben? Ich erkenne eine gewisse Ähnlichkeit mit den Patios in der Torre Reforma.
Sicherlich. Als ich die Gärten das erste Mal sah, haben sie mich richtig geschockt. Kann es sein, dass diese Gärten während der Bauzeit noch offen waren? Oder täuscht mich meine Erinnerung? In der Torre Reforma sind die begrünten Innenhöfe dreigeschossig und liegen zwischen dem Hochhauskern mit Aufzügen und Sanitärräumen und den mit Brücken verbundenen Büroflächen. Sie sind wichtig als Raum, wo man sich treffen kann, und sie haben zusätzlich die Funktion der Querlüftung. Dazu werden nachts um 2 Uhr die Fenster geöffnet, und da wir in Mexiko sehr kühle Nächte haben – das kann sogar unter 0 Grad gehen -, werden die Büros durch die frische Luft gekühlt. Damit reduzieren wir den Energieverbrauch um 25 Prozent. Darüber hinaus bauten wir horizontale, 1,20 Meter tiefe Aluminiumelemente ein, und weil die oberen Geschosse auskragen, wird die Glasfassade verschattet. So wird nochmal der Energieverbrauch gesenkt.
Das Hochhaus hat ja eine ganze Menge an nachhaltigen Aspekten?
Ich mag den Begriff der Nachhaltigkeit nicht. Er wird auch in Mexiko für alle möglichen Dinge angewandt, darüber hinaus beinhaltet der Begriff immer auch den Abriss und die Zerstörung des Gebäudes. Das ist ein Fehler, die Konstruktion eines Gebäudes verbraucht doch eine Menge Ressourcen und Energie. Deswegen sollten wir die Grundrisse möglichst flexibel planen und auch genügend Reserven im Tragwerk einplanen, damit die Häuser durch kleine Umbauten vielfältig nutzbar werden und damit ein möglichst langes Leben haben. Die Bürogeschosse in der Torre Reforma sind deswegen stützenfrei. Ich selbst verwende statt Nachhaltigkeit lieber den Begriff der Umweltfreundlichkeit. Darunter verstehe ich natürliche Energiequellen – wie Sonnenkollektoren oder Geothermie – zu verwenden und den Ressourcenverbrauch zu reduzieren. In der Torre Reforma fließt der Strom mit 23 Kilovolt, den wir dann in den Bürogeschossen über Transformatoren in 110 Volt umwandeln. Das spart Kupfer für die Leitungen und Platz für die sonst viel größer dimensionierten Installationen.
Weil Sie gerade das Tragwerk ansprechen. Das wurde von der Jury „als meisterhaftes neues Nachdenken über das Hochhaus“ besonders gelobt. Bei der Preisverleihung sagten Sie, es beruhe auf mexikanischer, auf aztekischer Tradition. Wie ist das zu verstehen?
Mexiko Stadt wird immer wieder von Erdbeben erschüttert. Für ein Hochhaus ist ein Erdbeben ein besonderes Risiko. Also habe ich mich gefragt, welche Gebäude bei uns Erdbeben widerstehen und welche nicht. Und das sind wegen ihrer Masse – Stein oder schwere Ziegel – historische Gebäude wie beispielsweise die aztekischen Pyramiden oder der mexikanische Nationalpalast. Und eben nicht moderne Skelettkonstruktionen und Stahl-Glas-Gebäude. Traditionen sind ja jahrhundertealtes Wissen. Warum sollte man dieses Wissen nicht nutzen? Ich habe versucht, dieses tektonische, dieses traditionelle aztekische Prinzip auf ein Hochhaus zu übertragen: Zwei der drei Fassaden bestehen aus massiven Betonmauern, die in 60 Meter Tiefe im Granitboden verankert sind. Wir haben dazu täglich eine 70 Zentimeter dicke Betonschicht gegossen, wobei die beweglichen Fugen die seismischen Schwingungen aufnehmen können. Wegen des Schlagregens überlappen sich die Fugen zusätzlich an ihren Enden um etwa 5 Zentimeter. Und bei den Patios befinden sich große Öffnungen, die über drei Geschosse reichen und als Knautschzonen fungieren. Als im September 2017 ein Erdbeben Mexiko Stadt erschütterte, hat sich die Torre Reforma wirklich sehr schön bewegt. Bis auf ein paar Risse in den Fugen, das hatten wir ja kalkuliert, ist nichts passiert.
Zusätzlich gibt es ja diese diagonalen Stahlträger, an denen die Geschossplatten hängen?
Beton kann auf Druck reagieren, aber nicht auf Spannung. Deswegen die Stahlträger, die mit den Betonfassaden verbunden sind: Sie ziehen die Lasten der Geschossdecken nach hinten, heben sie an und leiten über den Beton nach unten. Cecil Balmond, dem ich meine Tragwerksidee vorstellte, meinte, es funktioniere wie ein Büstenhalter. Das war mir gar nicht bewusst, obwohl ich zwischen Damenunterwäsche aufgewachsen bin: Meine Mutter hat bei einer Lingerie-Firma als Designerin gearbeitet, und Dessous lagen während meiner Kindheit überall in der Wohnung herum.
Sie sprachen die Langlebigkeit von Gebäuden an. Deswegen haben Sie auch eine historische Villa integriert?
Die „Casona“, so heißt in Mexiko ein großes Haus, ist meiner Meinung nach nicht besonders schön, und sie besutzt auch keine besondere Historie. Da haben keine wichtigen Leute gelebt. Aber sie steht für eine Periode, in der alle reichen Leute in Mexiko in solchen Häusern wohnten. Mexiko Stadt hieß früher die „Stadt der Paläste“, aber diese Paläste wurden sukzessive abgerissen. Die Casona ist eines der letzten ihrer Art und deswegen geschützt. Wir haben das Haus während der Bauarbeiten verschoben und dann in die Eingangslobby integriert. Heute befindet sich dort ein Apple Flagship-Store.
Das Verschieben war doch bestimmt teuer?
Das hat 800.000 Dollar gekostet. Aber das Grundstück war sehr billig. Jeder wusste, das Grundstück, das ja an einer prominenten Stelle liegt, hat enormes Potential. Aber keiner wusste mit der denkmalgeschützten Casona etwas anzufangen. Als mich die Investoren fragten, ob sie das Grundstück kaufen sollten, habe ich sofort „Ja“ gesagt. Wir haben dann ein Betonbett für die Fundamente der Casona gegossen und diese auf zwei Wägen ganz langsam verschoben. Allerdings machte uns die Villa Probleme bei der Finanzierung.
Warum?
Nun mit 170 Millionen US-Dollar wurde es doch ein ziemlich preiswertes Hochhaus – auch für Mexiko. Die Torre BBVA Bancomer von Rogers und Legorreta, gleich gegenüber der Torre Reforma, bietet etwa 50 Prozent mehr Fläche, hat aber auch 623 Millionen Dollar gekostet. Wir haben nur eine Fassade, die beiden Betonwände sind ja Tragwerk, und das Grundstück hatte wegen der Casona einen sehr bezahlbaren Preis. Aber, wie das wahrscheinlich überall in der Welt ist: Für die Banker waren das zu viele Unbekannte – das neue Tragwerk, die Art der Gründung, das Verschieben eines Hauses. Da sperrten sie sich. Also mussten wir neue Investoren finden.
Der Juryvorsitzende des Internationalen Hochhauspreises, Kai-Uwe Bergmann, sagte bei der Verleihung, es habe wohl keiner damit gerechnet, dass das innovativste Hochhaus des Jahres 2018 ausgerechnet in Mexiko steht.
Ich auch nicht (lacht). Deswegen freut es mich umso mehr.
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Hochhauspreisträger 2018 L. Benjamín Romano in Frankfurt am Main
Der Torre Reforma in Mexiko Stadt steht am Paseo de la Reforma.
In das Erdgeschoss wurde eine dahin verschobene, denkmalgeschützte Villa integriert.
Die Tragwerksidee funktioniere wie ein Büstenhalter soll Cecil Balmond gesagt haben.
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