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https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Zensierte_Lichtinstallation_von_realities_united_in_Toronto_5309043.html

29.01.2018

Dunkelheit statt freier Meinung

Zensierte Lichtinstallation von realities:united in Toronto


Insgesamt zehn Jahre verstrichen für Planungszeit und Bau – kurz vor Weihnachten konnten sie endlich in Betrieb genommen werden: Sechs neue Haltestellen der U-Bahnlinie 1 in Toronto. Die Stationen der erweiterten Linie und ihre großformatigen Kunst-am-Bau-Werke wurden vom kanadischen Premierminister Justin Trudeau feierlich eingeweiht. Alle Kunstwerke? Nein. Die vom Berliner Architektur- und Künstlerkollektiv realities:united konzipierte Lichtinstallation des Bahnhofs Pioneer Village läuft bis heute nicht – und der Bahnhof liegt im Halbdunkel.

130 Meter überspannt die hybride Installation LightSpell, die die Gleisbeleuchtung des von Will Alsop entworfenen Bahnhofs in ein interaktives Display verwandeln soll: Von der Decke hängen 40 nebeneinander befestigte Leuchten, auf denen sich nach dem Prinzip der 16-Segment-Anzeige Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen darstellen lassen. Mithilfe von fünf Eingabestellen – Keyboards, die frei zugänglich auf dem Bahnsteig installiert wurden – können Wartende ihre Gedanken direkt und ohne Verzögerung über den Köpfen der Mitpassagiere aufleuchten lassen. Die Helligkeit der Plattform bleibt dabei beständig, egal wie viele der Segmente in Anspruch genommen werden. Für Jan und Tim Edler von realities:united der interessanteste Aspekt der Arbeit: Jede Äußerung, egal ob unterhaltsam, schlau, bedeutungsvoll, nichtssagend oder sogar verletzend, ob beachtet oder ungelesen, sorge für die konstante Beleuchtung der Bahnsteige – und stelle damit eine Grundvoraussetzung für den Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs sicher.

Es ist ein Experiment in sozialer Kontrolle, das sich die Berliner für Toronto ausdachten. Jeder, der sich auf dem Bahnsteig aufhält, hat die Möglichkeit, auf das Geschriebene zu reagieren, es zu kommentieren, redigieren, es zu ignorieren oder ihm zu applaudieren. Manche Äußerungen wären schon nach wenigen Sekunden wieder überschrieben, andere blieben vielleicht tagelang lesbar.

Doch genau diese Unmittelbarkeit provozierte Bedenken bei der Toronto Transit Commission (TTC). Die Furcht vor Hatespeech im öffentlichen Raum – und dem drohenden Imageschaden, der daraus für die Transportgesellschaft folgen könnte – überwog in den vergangenen Wochen. Das Unternehmen hatte die überdimensionale LED-Laufschrift 2009 in Auftrag gegeben, dennoch weigert es sich nun, die Installation ohne Missbrauch einschränkende Filteralgorithmen einzuschalten. Eine ausführliche Stellungnahme hat die TTC bisher jedoch noch nicht gegeben.

Die Idee, mit einer Art eingebauten Zensur für Ruhe zu sorgen, ist eine absurde Forderung für eine Arbeit, die anstrebt, den öffentlichen Raum mit Mitteln der Digitalisierung zum Öffentlichmachen einer Haltung zu nutzen. Das, was leise im Kopf stattfindet und was bislang auf dem eigenen Handy vorwiegend mit Ähnlichdenkenden kommuniziert wird, soll durch LightSpell schließlich laut und für alle Umstehenden sichtbar und damit verhandelbar gemacht werden. (kms)

Fotos: realities:united 2017


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