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20.09.2016

Eine Frage der Zugehörigkeit

Zu Besuch bei der Oslo Architekturtriennale


Großstädtische Tauschnetzwerke, Arbeitsnomaden im Hotel oder skandinavische Seniorendörfer auf der iberischen Halbinsel: Zahlreiche Phänomene zeigen, dass neben der Heimatlosigkeit Geflüchteter auch andere Menschen über schwindende räumliche Bindungen verfügen. Die sozialen Folgen einer solchen Deterritorialisierung sind noch vollkommen unklar – ebenso wie die Frage, ob es ein Gegenmittel braucht. Die 6. Architekturtriennale in Oslo widmet sich deshalb dem Thema „After Belonging“.

Von Stephan Becker


Ein luxuriöser Lebenswandel mit Geld, Drogen und ständigem Nervenkitzel: Für verdeckte Ermittler ist es nicht ungewöhnlich, die Orientierung zu verlieren. Immer wieder gibt es Fälle, bei denen einst brave Beamte vollkommen in ihrer neuen Rolle aufgehen – ohne Chancen auf Reintegration. Wer jedoch meint, diese Gefahr einer schleichenden Identitätsverschiebung betreffe nur Polizisten und Geheimagenten, der hat die Rechnung ohne das Internet gemacht. Längst reicht es nämlich, seine Wohnung über Airbnb an Fremde zu vermieten, wie Ila Bêka und Louise Lemoine in ihrem Film „Selling Dreams“ zeigen. Darin berichtet ein früherer Steuerbeamter, wie er als Kurzzeitvermieter sein bisheriges Leben und seine Frau verliert, nur um dann in einen Strudel voller falscher Identitäten zu geraten. Harmonische Kleinfamilie und schwules Künstlerpaar, bei seinen inzwischen zahllosen Angeboten wechselt er gekonnt die Rollen, während in den Wohnungen alles bis ins Detail stimmt – gerne dürfen die Gäste in der Wäsche der vermeintlichen Gastgeber wühlen.

Die Auswirkungen von Airbnb auf unsere Ferien wie auf unseren Alltag sind nur ein Beispiel, wie vor kurzem noch eindeutig definierte soziale Räume heute ihre Grenzen verlieren. Wenige Aspekte unseres Lebens erscheinen dabei als dauerhaft stabil. Im Gegenteil, fast alles ist heute in Bewegung und wird ganz nach Bedarf flexibel organisiert, was allerdings auch bedeutet, dass man sich auf nichts mehr verlassen kann: Weder auf Grenzen und Identitäten, noch auf Jobs und Karrieren oder eben auch nur auf Häuser und Interieurs. Die Kuratoren der Triennale, Lluís Blanco, Ignacio Galán, Carlos Carrasco, Alejandra Llopis und Marina Verzier, die alle mit der Columbia University assoziiert sind, beschreiben diesen Zustand als „After Belonging“. Sie rufen damit primär das Ende der Zugehörigkeit aus, sie beziehen sich aber auch auf das private Eigentum, das in unserem Alltag ebenfalls eine immer geringere Rolle spielt. Das Thema trifft damit zentrale Aspekte unseres Lebens, lässt sich doch mit einigem Recht behaupten, dass zumindest im 20. Jahrhundert die westlichen Gesellschaften entlang von Eigentum und Zugehörigkeit organisiert waren – und dass nicht zuletzt die Architektur einen wesentlichen Anteil an diesen Prozessen hatte. Das beginnt mit den nationalen Baustilen, das betrifft aber auch kollektive Wohnformen wie jene der Arbeitersiedlungen, die Zugehörigkeit und soziale Stellung verbanden und das reicht bis hin zum Einfamilienhaus, das als Versprechen wie auch als ökonomische Verbindlichkeit ein wesentliches Element des Wirtschaftswunders war. Darüber hinaus ist auch politische Teilhabe bis heute nach territorialer und staatlicher Zugehörigkeit organisiert, was angesichts der längst allgegenwärtigen transnationalen Mobilität ebenfalls immer weniger Sinn macht.

Was also, wenn plötzlich die Verlässlichkeit fehlt, wenn wir mit dem Wohnort auch unsere Identität wechseln, weil unser neuer Job vollkommen andere Anforderungen an unsere private Performance stellt? Wenn wir unseren individuellen Besitz zugunsten neuer Sharing-Angebote aufgeben, wir unseren Alltag aber damit zugleich auch in die Hände großer, anonymer Firmen legen? Wer trifft noch demokratisch legitimierte Entscheidungen, wenn niemand mehr irgendwo zu Hause ist? Die Frage nach der Zugehörigkeit, die das Team von „After Belonging“ stellt, ist damit tatsächlich von großer Wichtigkeit, auch wenn bei der Umsetzung in Oslo nicht immer alles überzeugt.

China in Norditalien
Architektur – von den Triennale-Machern eher als eine im weiteren Sinne raumbezogene Praxis verstanden – wird einerseits durch die Flexibilisierung unterminiert, sie trägt andererseits aber auch zu ihrer Durchsetzung bei, während sich manchmal sogar Ansätze eröffnen, sich der heutigen Flüchtigkeit durch geschickte Gestaltung zu widersetzen. „After Belonging“ ist in zwei räumlich getrennten Ausstellungen organisiert, die unterschiedliche Herangehensweisen repräsentieren. „On Residence“ in Oslos Architekturmuseum DoGA zeigt einen journalistischen Blick auf verschiedene Phänomene, die nach Maßstäben und Zuständen geordnet sind. Die dynamischen Grenzen vieler migrantischer Gemeinschaften sind dabei ebenso ein Thema wie der Status von Objekten, die nicht mehr Individuen, sondern höchstens noch abstrakten Firmenkonglomeraten gehören. Extrembeispiele wie die notorische Foxconn City kommen einem dabei in den Sinn, wo die Menschen nicht viel mehr als ein paar Anziehsachen besitzen. Man lernt zugleich aber auch, wie sich Menschen trotz allem einrichten in diesem Zustand des Vorübergehenden oder wie neue Medien und Kommunikationsformen bestimmte historische Formen der Raumnutzung überflüssig machen – man denke nur an den Marktplatz als Ort der öffentlichen Zusammenkunft, der durch andere Formen des Austausches längst seine Wichtigkeit verloren hat.

Trotz vieler interessanter Untersuchungen etwa über Denkmalschutz oder Religion bleiben allerdings viele der Projekte im Bezug zum Oberthema der Triennale vage und abstrakt, was auch damit zu tun haben kann, dass nur wenige der ausgestellten Arbeiten eigens für die Ausstellung entstanden sind. Das wiederum holen die Macher im zweiten Teil „In Residence“ nach, der im Sverre-Fehn-Bau des Nationalmuseums zu sehen ist. Hierfür wurden weltweit zehn Orte ausgewählt, für die jeweils ein Report und eine Intervention entstanden sind. Von den wuchernden Self Storage Facilities in New York reist man über transnationale Nachbarschaften in Stockholm und chinesische Textilfabriken in Norditalien bis nach Dubai, wo eine „Healthcare City“ auch die ästhetischen Bedürfnisse internationaler Gesundheitstouristen ansprechen soll. Dabei überzeugen die Reports durchaus – auch der Film von Ila Bêka und Louise Lemoine ist hier zu sehen – während jedoch auch hier konkrete architektonische Ansätze etwas unterbelichtet bleiben.

Flexible Massen
Es wäre allerdings zu einfach, würde man aus diesem Fehlen auf mangelndes Interesse der Kuratoren an Architektur im engeren Sinne schließen oder gar ihre generelle Bedeutungslosigkeit angesichts der fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen konstatieren. Im Gegenteil scheint es eher so zu sein, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Wirkungsebene der Architektur grundlegend verschoben hat. War beispielsweise noch die Moderne ganz wesentlich am einzelnen Individuum interessiert und am konkreten Ort interessiert, ist Architektur heute eher ein Werkzeug, um die Bewegungen anonymer Menschen- und Objektmassen zu organisieren – was für touristische Landschaften in Spanien ebenso gilt wie für die bereits erwähnten Self Storage Facilities oder die zahllosen Logistikzentren am Stadtrand. So kann man in Oslo fast den Eindruck bekommen, dass die Architektur uns als individuelle Menschen mit spezifischen Bedürfnissen längst verraten hat, während sie als universelles Werkzeug der Flexibilisierung wirkmächtiger denn je ist.

Dazu gehört, dass Architektur auch als Gegenmittel nur bedingt Hoffnung macht – am ehesten vielleicht noch im Sinne neuer Typologien wie bestimmter kollektiver Wohnformen oder als Erste-Hilfe-Lösung, wenn es darum geht, Flüchtlingsunterkünfte durch minimale architektonische Interventionen zu verbessern. Dass jedoch Gestaltung allein ein Gefühl der Zugehörigkeit herzustellen vermag – ein Traum, den selbst noch die Postmoderne hegte – ist wohl angesichts der Flüchtigkeit unserer Beziehungen zum Raum nicht mehr zu erwarten. Wer überall nur ein paar Jahre bleibt, wird seine Identität kaum an etwas so Statisches wie ein einzelnes Gebäude knüpfen – der letztlich oft charakterlose Wohnungsbau der Gegenwart kündet davon. Damit steht die Triennale Oslo interessanterweise auch im Kontrast zu Alejandro Aravenas Biennale in Venedig, die durchaus sehr direkt – wenn auch ebenfalls nicht immer erfolgreich – auf den Möglichkeiten der Architektur beharrt.

Wo architektonische Gegenmaßnahmen fehlen, betätigen sich aber zumindest Architekturbüros wie OMA in weiterführenden Überlegungen. Zusammen mit der norwegischen Technologie-Agentur Bengler entwickeln die Rotterdamer die Web-Plattform Panda, die im Rahmen einer Rauminstallation vorgestellt wird. Mittels selbstentwickelter Algorithmen soll hier grenzüberschreitendes Protestpotential identifiziert werden, um über einzelne Orte und Länder hinaus Menschen im Widerstand gegen die neuen Herrscher der Welt zusammenzubringen – ein Versuch also, Airbnb, Facebook oder Ueber mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen.

Moderne Großstadtnomaden
Interessant ist jedoch, wie sehr die Macher der Triennale, wie sehr man aber auch selbst einen Zustand des „After Belonging“ zunächst mal als Problem wahrnimmt. Mögliche negative Konsequenzen, wie der Zerfall der politischen Sphäre, scheinen auf der Hand zu liegen und sofort hat man das Bild vereinzelter und entfremdeter Menschen vor Augen, die den Kräften des Marktes ungeschützt ausgeliefert sind. Aber stimmt das tatsächlich oder lassen sich umgekehrt nicht auch positive Implikationen identifizieren? Im Rahmen der Konferenz, die zur Eröffnung der Triennale stattfand, erinnert zumindest der Osloer Sozialanthropologe Thomas Hylland Eriksen daran, dass der Zustand der Stabilität, wie er im 20. Jahrhundert vorherrschend war, in der bisherigen Menschheitsgeschichte eher als Ausnahme gelten muss – und damit jenseits der herrschenden Klassen auch die Manifestation des Lebens in festen Bauwerken aus Stein und Beton eher ungewöhnlich ist. Als Normalität muss hingegen die ewige Wanderschaft gelten, was nicht nur ganz generell Konzepte wie Zugehörigkeit und Heimat hinterfragt, sondern auch bedeutet, dass wir Menschen bei allen Schwierigkeiten durchaus dazu befähigt sind, mit Instabilität produktiv umzugehen. Nicht zuletzt ist der ewige Transit aber auch das Idealbild einer Moderne, wie sie beispielsweise Ludwig Hilberseimer mit seinen Großstadtvisionen zeichnet, wenn er einen hotelähnlichen Dauerzustand als Mittel der sozialen Emanzipation beschreibt. Der Architekturhistoriker Reinhold Martin, der an der Columbia University lehrt, merkte auf der Konferenz außerdem an, dass Zugehörigkeit und Eigentum zugleich ja auch immer Zwänge und Ausgrenzungen produzieren und „Belonging“ damit keineswegs nur als positives Konzept zu sehen ist.

In der eigentlichen Ausstellung fehlen solche historischen Perspektiven allerdings – leider muss man sagen, wären solche Positionen doch hilfreich gewesen, um auch die heutigen Entwicklungen in ihrer Tragweite einschätzen zu können. Hochaktuelle politische Phänomene von der islamischen Radikalisierung der französischen Vorstadtjugend über die Brexit-Hoffnungen der Briten bis hin zum Wahlerfolg der AfD haben schließlich auch damit zu tun, dass sich Menschen eben nicht mehr zugehörig fühlen – wenn auch vielleicht nur auf höchst subjektive Weise. Architektur ist Teil von alledem, man denke nur an die Pariser Banlieue, doch welches Potential heute in ihr steckt, das muss sich erst zeigen. Neue Gemeinschaften jenseits des Individualbesitzes, darin lässt sich aber durchaus ein utopisches Moment erkennen – und das nicht nur angesichts der weiterhin schnell steigenden Immobilienpreise für großstädtisches Wohneigentum.

Die 6.
Architekturtriennale Oslo läuft noch bis zum 27. November 2016, die beiden Hauptaustellungsorte sind das Design- und Architekturzentrum DogA und der Sverre-Fehn-Bau des Nationalmuseums.


Zum Thema:

www.oslotriennale.no


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