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11.10.2012

Der verlassene Faschismus

Ein Bildband zeigt ruinöse Kinderferienheime aus Mussolinis Italien


Seit Jahrzehnten verfällt diese futuristische Ikone am Strand bei Genua: ein zwölfgeschossiger Turm in lupenrein modernen Formen – Fensterbänder, abgerundete Ecken, schwebende Flugdächer, ineinander verschränkte Volumina. Das einschlägige Dampfermotiv der Architekturmoderne ist hier Stein, Beton und Stahl geworden. Allein: Die hölzernen Jalousien sind gebrochen, die Scheiben geborsten, die weiße Farbe verblichen. Im Inneren künden verblasste, übertünchte  Wandgemälde mit Flugzeugen, Fabriken und Brücken von der mechanisierten Modernità des italienischen Faschismus. Das Gebäude des Kinderferienheims „Colonia Marinara PNF Genova“ wurde unter Mussolini 1931 von dem Architekten Camillo Nardi Greco errichtet. Wie viele Ferienheime aus dieser Zeit ist es seit Jahrzehnten verlassen, aufgegeben. „Fascismo abbandonato“, heißt denn auch der üppige Bildband, in dem wir perfekte aktuelle Abbildungen dieser Bau-Ruinen finden.

Was wir nicht sehen, sind die kleinen Bewohner, die hier damals neben Seeluft und Sonnenlicht auch vormilitärischen Drill erhielten – nicht, um die individuelle Gesundheit der Kinder zu stärken, sondern um den „Volkskörper“ zu ertüchtigen. Nach dem Ende des faschistischen Spuks sind die Ferienheime zunächst weiter genutzt worden, bis auch in Italien der Trend zum individuellen Familienurlaub ging. Kasernierte Kinderferien wurden in den sechziger Jahren unbeliebt, die Anlagen blieben jedoch stehen. Ihre Abgelegenheit sicherte ihnen oft den Bestand; niemand wollte zunächst diese Grundstücke weiternutzen.

Die italienischen Kinderferienheime des Faschismus, „Kolonien“ genannt, sind ein Architekturphänomen, das die Phantasie von Fotografen und Forschern immer wieder anzieht. Bereits im Jahr 1985 erschien ein Heft der Architekturzeitschrift „Domus“, in dem eine Reihe dieser Bauten im schaurig-schönen Zustand des Verfalls dokumentiert wurde. Ein Londoner Ausstellungs- und Buchprojekt „Cities of Childhood“ folgte 1988. Aus solchen Veröffentlichungen hat sich schnell eine Art Kanon der wichtigsten, spektakulärsten Bauten herauskristallisiert. Auch der britische Fotograf Dan Dubowitz reist seit 2005 auf den Spuren dieses Kanons, aus dem er 13 Kolonien für dieses Foto-Projekt auswählte.

Doch was macht diese Bauten so bedeutend – zumal international? Es ist wohl der so greifbare, offensichtliche Widerspruch zwischen den Architekturformen, die bei den meisten Kolonien im Stile des Rationalismus, also der italienischen Spielart der internationalen Moderne, gehalten sind, und andererseits dem Inhalt, der in einer paramilitärischen Ausbildung von Kindern in einem totalitären System bestand. Dieser Widerspruch wird vor allem außerhalb Italiens so deutlich empfunden. Um das zu verstehen, hilft ein kurzer vergleichender Blick in die jüngere Baugeschichte.

Nehmen wir Deutschland: Die Forschung weiß heute zwar, dass es hier keinen einheitlichen nationalsozialistischen Staatsstil in der Architektur gab. Je nach Bauaufgabe und Lage wurden durchaus auch „moderne“ Formen geduldet, nicht zuletzt in der Luftfahrt (Hangars des Flughafen Tempelhof!) und der Rüstungsindustrie (Heinkel-Werke!). Aber klar war andererseits auch, dass repräsentative Bauaufgaben der Obrigkeit ebenso wie der Wohnungs- und Kasernenbau ab 1933 in einem vergröberten neoklassischen Monumentalstil (Speer!) oder – öfter noch – in einem konservativen Heimatstil (Schmitthenner!) auszuführen waren.

Manche Architekten hatten zunächst versucht, den Nazis die Moderne schmackhaft zu machen, so zum Beispiel beim Reichsbankwettbewerb 1933, bei dem die Bauhaus-Modernisten Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe mit „modernen“ Entwürfen bei den Machthabern zu reüssieren versuchten. Erst als das nicht klappte, gingen sie in die Emigration – wie vor ihnen schon zwangsweise jüdische Kollegen wie Erich Mendelsohn.

Die Architekturmoderne in Deutschland hatte sich immer auch als sozial angetrieben definiert – bis der Nationalsozialismus dem ein Ende setzte. In Italien dagegen war die Situation gänzlich anders. Die Begründer des Razionalismo, die Architekten der „Gruppe Sieben“, machten den Faschismus gar zum theoretischen Unterbau ihrer Manifestationen – und haben es tatsächlich jahrelang geschafft, den Machthabern den Rationalismus als Staatsstil anzudienen. Erst gegen Ende der dreißiger Jahre überwog dann doch der Neoklassizismus eines Marcello Piacentini das öffentliche Baugeschehen in Italien.

Der wohl bedeutendste rationalistische Architekt aus der „Gruppe Sieben“, Giuseppe Terragni, verlor 1943 für Mussolini im Krieg sein Leben. Er hatte zuvor den wichtigsten Leitbau des Rationalismus, die „Casa del Fascio“ in Como, im Jahr 1936 nicht zufällig der faschistischen Partei gewidmet. Dafür wurde er kürzlich erst wieder aus einer ganz anderen Ecke geehrt: Der polnisch-amerikanische Architekt Daniel Libeskind, der jüdischer Herkunft ist, widmete Terragni einen gewichtigen „Terragni-Atlas“ – ein Jubelbuch für den Couchtisch, in dem die Entwürfe des fanatisch gesonnenen Architekten heute wieder zum Studium und zur Nachahmung empfohlen werden. Bei der Rezeption des Rationalismus lässt sich also offenbar die sichtbare Form nahezu vollständig vom politischen Geist ihrer Entstehung trennen.

Waren die modernen Ferienkolonien also „gute“ Architektur, in denen lediglich zufällig faschistischer Ungeist zu Hause war? Der Frankfurter Bauhistoriker Arne Winkelmann, der in Personalunion Co-Autor und auch Verleger der deutschsprachigen Ausgabe dieses Buches ist, verneint das. Er analysiert vielmehr Konzept, Formensprache und die Bauzier der Kinder-Kolonien und stellt fest, dass Architekturstil und Nutzungspraxis sich gegenseitig bedingen: „Die moderne und avantgardistische Architektur der Colonie war integraler Bestandteil der politischen Indoktrination“.
So sei die Grundrissgliederung analog zu den militärischen Hierarchien der Kindergruppen ausgelegt. Die räumliche Organisation der Kolonien mit ihren Schlafsälen in den Größen militärischer Einheiten stelle schlicht diejenige von Kasernen dar. In der funktionalen Gliederung seien die Schlafbereiche der Kinder streng von den Dienstleistungsbereichen getrennt. Winkelmann sieht darin eine Analogie zur im Faschismus angestrebten „Maschinisierung des Menschen“, in der sämtliche Lebensprozesse kollektiviert werden. Allerdings bleibt da die Frage offen, warum heute auch jeder Robinson-Club derart organisiert ist, ohne gleich in Faschismus-Verdacht zu geraten.
Überzeugend ist Winkelmann dort, wo er das Dampfermotiv näher unter die Lupe nimmt. Gleich drei der behandelten Kolonien erinnern mit Schiffsrümpfen, Relings und Gangways an diesen zentralen Topos der Bau-Moderne. Aber: Bei der Kolonie „XXVIII Ottobre“ in Cattolica wirken die vier Schlaftrakte wie Schnell- oder Torpedoboote der Marine und nicht wie Dampfer der zivilen Schifffahrt. Hier vervollständige sich ein Bild einer Generation, die auf den Krieg, den Seekrieg vorbereitet werden soll, sagt Winkelmann. Und: So ist es dann ja auch gekommen.

So sehen, wenn auch aus anderen Gründen, manche der einst stolzen Bauten heute aus wie Kriegsruinen. Dieses Buch macht aus dem Verfall der Moderne ein ästhetisches Ereignis. Technisch perfekte, gegenüber der Ausstellung inzwischen auch perspektivisch korrigierte farbige Architekturfotos werden großteils doppelseitig präsentiert. Ein Anhang mit historischen Aufnahmen und Daten zum jeweiligen Bau ergänzt den Bildteil.

Was das Buch nicht zeigt: Für einige der kanonischen Kolonien hat mittlerweile nach Mussolinizeit und Nachkriegsnutzung ein drittes Leben begonnen – sie werden restauriert und von der aktuellen Tourismusindustrie in Beschlag genommen. Damit ist das Buch gerade noch rechtzeitig zum Zeitzeugen einer nunmehr abgeschlossenen Epoche geworden: der Ära des Verfalls der verlassenen faschistischen Kinderferienkolonien Italiens. (Benedikt Hotze)

Fascismo abbandonato.
Kinderferienlager in Mussolinis Italien

Fotografien von Dan Dubowitz
Essays: Penny Lewis, Patrick Duerden
und Arne Winkelmann
Antaeus Verlag/Dewi Lewis Publishing
Frankfurt/Main, 2010, 45 Euro

www.antaeusverlag.de


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