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30.05.2016
Happy People in den Giardini
Ein Rundgang mit Menschen als Staffage
Von Stephan Becker
Wie viele Überstunden haben Sie in der letzten Woche geleistet? Hätten Ihre Häuser ein Fair-Trade-Siegel verdient? Alejandro Aravena hatte sich auch von den nationalen Biennale-Beiträgen Nachrichten von der Front gewünscht und der polnische Pavillon entdeckt mit „Fair Building“ die Konfliktzone im eigenen Büro. Sollten wir an unsere Gebäude nicht die gleichen Ansprüche stellen wie an unsere Lebensmittel? Eine finale Antwort gibt es nicht, doch die Architektenschaft wird hier – wie auch beim serbischen Beitrag und dem ungarischen Pavillon – daran erinnert, dass sich keine Profession der Verantwortung entziehen kann.
Aravena legt den Fokus auf konkrete Anliegen und alltägliche Kämpfe, auf jene Situationen also, in denen Architektur unmittelbar zur Verbesserung der Lebensbedingungen beitragen kann. Dahinter steckt durchaus die Hoffnung, dass die Biennale selbst Teil dieser Bemühungen wird: Als Ort des Austauschs, an dem Architekten voneinander lernen können und an dem sich verschiedene Ansätze diskutieren lassen, an dem aber auch Platz für neue ästhetische Positionen ist. Eingelöst wird dieses Versprechen einer angewandten Biennale allerdings nur dann, wenn sich die Teilnehmer auf eine präzise Fragestellung beschränken, wenn es nicht um den großen Überblick, sondern um die entscheidenden Details geht – und das gelingt leider nur wenigen Ländern.
Glückliche Modell-Menschen
Gerade die großen Architekturnationen in den Giardini beweisen dabei keinen Mut zur Reduktion. Dänemark, Frankreich, die Nordischen Länder oder auch das immerhin mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnete Japan präsentieren jeweils ausufernde Projektschauen mit einer Vielzahl an Projekten. Wirklich interessante Ideen, die es zweifellos gibt, gehen dabei unter in einem Häusermeer, das heutzutage besser im Internet aufgehoben ist. Was außerdem auffällt, sind die vielen Staffage-Figuren, die wohl den sozialen Charakter der Projekte beweisen sollen. Noch auf keiner Biennale waren wahrscheinlich so viele glückliche Modell-Menschen zu sehen, während man über die relevanten Aspekte der Architekturproduktion eher wenig erfährt.
Eine Vielzahl an Projekten sammeln auch Südkorea und der mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete spanische Pavillon, doch hier hilft jeweils ein präziser Fokus. Südkorea spielt das FAR-Game, also das GFZ-Spiel, und erklärt, welche ökonomischen Entwicklungen dort gerade eine ganz neue Typologie von hochverdichteten, räumlich komplexen Stadthäusern entstehen lassen. Zu diesem Boom im dialektischen Gegensatz steht der spanische Beitrag „Unfinished“, der sich der Hinterlassenschaften der über Jahrzehnte währenden Immobilienblase annimmt. Künstlerische Fotografien zeigen Bauruinen als räumliches Potential, während zahllose realisierte Projekte der Inspiration dienen sollen.
Präzise Fragen – präzise Antworten
Was ein präziser Fokus vermag, zeigt der Schweizer Pavillon mit „Incidental Space“ – einem Beitrag, der – wenn man sich auf ihn einlassen mag – zu den interessantesten Perspektiven der Biennale gehört. Die Front ist hier zwar ästhetischer Art, doch gerade das kann beflügeln, weil es jenseits des Alltags Begehren schafft – Projekte wie Antoni Gaudís Sagrada Família beweisen es mit ihrer kollektiven Baugeschichte.
Am gelungensten zeigt jedoch der belgische Pavillon, wie eng formale und soziale Aspekte oft verknüpft sind. Bravoure nennt sich das Team aus de vylder vinck taillieu, doorzon und Filip Dujardin, die sich unter dem Kommissar Christoph Grafe mit dem Verhältnis von Ressourcenknappheit und handwerklichem Können beschäftigen. Auch hier sind bereits viele Projekte bekannt, und falsch wäre es nicht, den Beitrag als typisch belgisch zu beschreiben. Trotzdem ist es inspirierend, wie sich hier 1:1-Modelle von situativen Gebäudedetails mit den Fotografien der zugehörigen Gebäude und den Architekturphantasien von Dujardin überlagern. Das ist amüsant und lehrreich zugleich, weil nicht nur eine produktive Ästhetik des Mangels beschrieben wird, sondern zugleich auch ein halb realer, halb fiktiver Möglichkeitsraum entsteht.
Ebenfalls alles richtig machen wollen natürlich all jene Pavillons, die sich, wie der deutsche Beitrag, mit der Situation der Geflüchteten auseinandersetzen. Die finnische Ausstellung sieht dabei die Transformation alter Bürogebäude gleichermaßen als Lösung wie als Potential, verharrt aber ebenso wie der griechische Beitrag in einer unübersichtlichen Kleinteiligkeit. Überzeugender hingegen das österreichische Projekt von Elke Delugan-Meissl, die im Pavillon lediglich das Ergebnis einer Art Mini-IBA präsentiert. Mit dem Budget des Pavillons wurden daheim konkrete Interventionen von exemplarischem Charakter finanziert und man wundert sich, dass nicht auch andere Pavillons einen solchen Ansatz verfolgen.
Mit Retro in die Zukunft
Auf ästhetischer Ebene kann den Belgiern allein der britische Beitrag das Wasser reichen. Mit „Home Economics“ gelingt eine durchaus kurzweilige Präsentation zum Wandel unserer Wohnbedürfnisse, deren Innovationskraft allerdings eher dünn ist. Gut ausgestattete Gemeinschaftsräume findet man längst in vielen Baugruppen, Plastikkugeln als persönliche Wohnumgebungen sorgen für ein müdes Sixties-Feeling, Miniwohntürme werden im Clusterwohnen längst implementiert und die Immobilienwirtschaft arbeitet schon lange mit Wohnungsrohlingen. Auch über Wohnlandschaften muss man eigentlich nichts mehr sagen – die waren schon vor Jahrzehnten eine ebenso schöne wie unpraktische Idee.
Retrophantasien findet man allerdings nicht nur bei den Briten, auch der amerikanische Pavillon hat diesbezüglich einiges zu bieten. Zwölf Büros sollten spekulative Architekturen für Detroit entwickeln, die vor Ort neue imaginative Impulse setzen könnten. Doch sind Megastrukturen à la Kenzo Tange wirklich ein relevantes Versprechen für die postindustrielle Stadtlandschaft? Kurzweilig und vielfältig ist „The Architectural Imagination“ aber allemal.
Analysen am Pool
Insbesondere die deutschen Journalisten assoziieren laut Aravena beim Front-Begriff Kriege und Konflikte, doch konkret wird das Thema bei den Niederländern. Deren Pavillon setzt sich mit den architektonischen Implikationen der UN-Friedensmissionen auseinander und bietet neben einer fundierten Analyse auch die Hoffnung, die in manchen Regionen zahllos vorhandenen Stützpunkte zugleich für eine nachhaltige Entwicklung vor Ort nutzen zu können. Das zeigt, dass Aravenas Reportage-Auftrag auch dahingehend verstanden werden kann, aus einer beobachtenden Position heraus neue Fronten zu eröffnen. Der gelungene Beitrag von Manuel Herz in Zusammenarbeit mit Iwan Baan über Flüchtlingscamps gehört ebenso in diese Kategorie wie der australische Beitrag. Dort darf der Besucher in einem Pool planschen, wobei es um die gesellschaftliche Bedeutung dieser durch öffentliche Sparprogramme bedrohten Typologie geht. Einerseits dienen Pools als Orte der Zusammenkunft, andererseits lassen sich am Beckenrand aber auch zentrale Fragen des Körpers und der Identität verhandeln.
Beim ebenfalls researchorientierten kanadischen Beitrag von Pierre Bélanger spielt der Mensch wiederum nur eine untergeordnete Rolle. Aufgrund seiner kritischen Haltung wurde „Extraction“ aus dem eigentlichen Pavillon verbannt, weshalb der Beitrag über die territorialen Implikationen des Bergbaus schließlich nur dank einer unabhängigen Finanzierung im Außenraum realisiert werden konnte.
Kanadas Beitrag lehrt uns angesichts der wieder zunehmend spürbareren Macht der Natur Bescheidenheit – und damit eine Tugend, die trotz des von Aravena angeregten Themenkomplexes auf der diesjährigen Biennale eher etwas zu kurz kommt. Oder liegt dies gerade an seiner Vorgabe? Bei der Biennale 2016 darf sich die Architektur noch einmal als Retterin der Welt präsentieren. Und irgendein im weitesten Sinne soziales Projekt haben doch eigentlich alle Architekten in der Schublade – selbst jene, die sonst bevorzugt am Golf bauen. Größere politische oder ökonomische Zusammenhänge lassen sich da erfolgreich ausblenden.
Bei den Nachbarn klauen
Erfrischend darum in jeder Hinsicht Uruguay und Rumänien, die beiden vielleicht skurrilsten Pavillons der Biennale. Uruguay kommt in seiner räumlichen Interpretation zweier Extremsituationen gänzlich ohne Architekten aus und stiftet zugleich seine Besucher dazu an, für das eigene Archiv bei den anderen Pavillons zu klauen – so viel Schneid macht Spaß. Der rumänische Pavillon entwirft hingegen in mehreren Szenen ein Puppenspiel, für das man allerdings angesichts der kunsthandwerklichen Ästhetik etwas guten Willen braucht. Der Besucher wird in verschiedene sozio-räumliche Situationen versetzt, deren letzte ihn vor ein betont gelangweiltes Komitee führt. Dem muss er – wahrscheinlich vergeblich – seine Ideen präsentieren.
Ein schöner Kontrast zur Spritz-seligen Selbstfeier der Architektur, die alle zwei Jahre über Venedig kommt. Und eine sehr eigenwillige Perspektive, die besser als die meisten anderen Beiträge zeigt, wie vielfältig sich Alejandro Aravenas Motto „Reporting from the Front“ noch hätte interpretieren lassen.
Fotos: Nils Koenning, Josef Grillmeier, Francesco Galli (Courtesy: La Biennale di Venezia)